Liberal, neoliberal, CDU
Warum Vera Lengsfelds Sohn Philipp Chancen hat, in den Bundestag einzuziehen
Gewöhnlich verabredet sich CDU-Bundestagskandidat Philipp Lengsfeld mit Journalisten im Café »Einstein«, Unter den Linden, nah an den Parlamentsgebäuden. Doch früh um 8.45 Uhr hat das schicke Café noch nicht geöffnet. Darum trifft sich der 41-Jährige mit dem nd-Redakteur bei einem Bäcker in der Ackerstraße im traditionellen Berliner Arbeiterviertel Wedding. Vom Roten Wedding sprach man in den 1920er Jahren, weil das Gebiet damals eine Hochburg der KPD gewesen ist.
Heute muss Lengsfeld anschließend in die Privatschule schräg gegenüber. Auf seinem Terminplan steht wieder einmal ein Schaukampf mit anderen Direktkandidaten im Wahlkreis Berlin-Mitte. Das sind Eva Högl (SPD), Klaus Lederer (LINKE) und Özcan Mutlu (Grüne). Högl gilt als die Favoritin, Lengsfeld inzwischen als der Herausforderer. Aber auch Lederer hat Chancen, und Mutlu darf nicht abgeschrieben werden. So sieht das auch Lengsfeld, mit der Ausnahme, dass er schätzt, Mutlu sei wahrscheinlich schon aus dem Rennen. Über Lederer, den LINKE-Landesvorsitzenden, sagt Lengsfeld: »Er ist ein kluger Mann, aber er ist in der falschen Partei.« Sozialisten frotzeln wiederum, Lengsfeld sei »der beste Wahlkämpfer Lederers«, weil er diesen so extrem zugespitzt angreife und ihn damit bei Veranstaltungen in den Mittelpunkt rücke.
Berlin-Mitte gilt als einer der spannendsten Wahlkreise in Deutschland. Wohl nur hier stehen sich vier Parteien als einigermaßen gleich starke Blöcke gegenüber. Anderswo sind entweder die CDU, die LINKE oder die Grünen zu schwach. Aber in dem aus Ost und West zusammengestückelten Berlin-Mitte besitzt jede dieser Parteien ihre Domänen - die CDU zum Beispiel das edle Regierungsviertel, die SPD den roten Wedding, die LINKE die Plattenbauten auf der Fischerinsel und die Grünen den Arkonaplatz, der ans Szeneviertel Prenzlauer Berg grenzt und ebenso von Ökoanhängern überschwemmt ist. 26 Prozent der Erstimmen könnten in Mitte für einen Sieg schon genügen.
Für Lengsfeld ist es gerade die Mischung, die den Bezirk so interessant macht. Er wohnt zwar nicht in Mitte, hat aber dort seinen Arbeitsplatz - beim Chemiekonzern Bayer, der die Berliner Pharmafirma Schering geschluckt hat. Beruflich beschäftigt sich der promovierte Physiker in leitender Funktion mit Kontrastmitteln, ist dafür in der ganzen Welt unterwegs. Den feinen Zwirn, den er trägt, kaufte er sich also nicht erst für den Wahlkampf.
Es ist ein weiter Weg gewesen bis hierher - von dem Schüler, der 1988 von der Erweiterten Oberschule »Carl von Ossietzky« fliegt wegen einer Wandzeitung mit kritischen Bemerkungen, die dem DDR-Volksbildungswesen nicht in den Kram passen. Lengsfeld ist der älteste Sohn der Dissidentin Vera Lengsfeld, an deren Leben sogar die US-Filmindustrie Interesse zeigte. Der »Spion im Ehebett«, das schien ein Sujet zu sein für einen Hollywoodstreifen, der aber nie gedreht wurde. Ehemann Knud Wollenberger hatte als Inoffizieller Mitarbeiter dem Ministerium für Staatssicherheit Informationen geliefert. Der inzwischen Verstorbene war zwar nur Philipps Stiefvater, doch auch diese Geschichte hat seinen Lebensweg ein wenig vorgezeichnet. Es ist wohl kein Zufall, dass er viel über die Vergangenheit redet beim Treffen vor dem Bäcker.
Jahre nach seiner Mutter, die inzwischen für die CDU im Bundestag saß, wechselte auch Philipp 2001 von den Bündnisgrünen zur CDU. Er war zu diesem Zeitpunkt Bezirksverordneter in Pankow und ertrug es nicht, dass sich ein rot-grüner Berliner Übergangssenat von der SED-Nachfolgepartei PDS tolerieren ließ. Seinerzeit schrieb Lengsfeld an seiner Doktorarbeit und trug lässige Jackets oder Pullover. Das scheint heute undenkbar zu sein. Aber selbst im piekfeinen Nadelstreifen kommt er im leicht schmuddeligen Wedding gar nicht schlecht an. Die quietschfidelen Opas, die unrasiert vor der Bäckerei sitzen und rauchen, erkennen ihn, weil er kürzlich ihre Seniorenwohnanlage besuchte. »Das ist ein Politiker«, erklären sie einem Hinzukommenden. Lengsfeld lacht: »Noch nicht. Bis jetzt bin ich bloß Kandidat.«
Lengsfeld ist wirklich kein Politiker. Er wirkt nicht so stromlinienförmig wie die meisten Abgeordneten. Er bemüht sich gar nicht erst, vorsichtig zu formulieren, um nur ja keinen Wähler zu verprellen. Was ihn ärgert - und das scheint einiges zu sein -, damit platzt er heraus. Er vertritt erstaunlich liberale Ansichten beim Adoptionsrecht für Homosexuelle und denkt neoliberal, wenn es um die Wirtschaft geht. Die Leute sollen nicht jammern über niedrige Löhne, sondern sich auf den Hosenboden setzen, lernen und allein etwas aus ihrem Leben machen. »Ich kann nicht mit jedem Schüler in Wedding am Schreibtisch sitzen und ihm bei den Hausaufgaben helfen.« Jammern sei kein Konzept, auf Dauer zahle sich nur Leistung aus. Dass Hoteliers den Zimmermädchen wirklich nur fünf Euro die Stunde zahlen können, mag Lengsfeld glauben. Fest steht für ihn: Wenn es Deutschland mit schwarz-gelber Regierung gut geht, dann geht es allen besser, auch den Armen. Ob dieses Argument den nd-Redakteur überzeugt, spielt keine Rolle. Lengsfeld muss die Opas überzeugen - und das könnte klappen!
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