Dieses schwierige Der-die-das

Die Finanzkrise treibt Akademiker aus EU-Ländern nach Deutschland / Ein Besuch in einem Integrationskurs

  • Hanna Ongjerth
  • Lesedauer: 6 Min.
Seit 2011 kommen vermehrt Menschen aus den EU-Ländern nach Deutschland. In Berlin ist der Zuwachs vor allem von Akademikern gerade in den sogenannten Integrationskursen zu beobachten. Zugezogene sollen dort die deutsche Sprache lernen und sich mit der Kultur vertraut machen.

»Sehen wir uns erst mal an, was heute in der Presse steht«, beginnt Berra Ilkan-Boga, die Leiterin des Integrationskurses der Berliner Hartnackschule, ihre Stunde. Ihre schwarz-weiß karierte Hose und das dunkle Oberteil passen harmonisch zu ihren langen kohlrabenschwarzen Haaren. Sie spricht mit kraftvoller Stimme und begleitet ihre Worte mit großzügigen Gesten. Es ist Mittwochvormittag, die Sonne blinzelt freundlich durch die Rollladen des Klassenzimmers. Von der Straße ist nur das melodische Mantra eines Leierkastens zu hören. Ilkan-Boga schlägt eine alte Tageszeitung auf. »Obama kommt im Juni nach Berlin«, berichtet sie. »Mit seiner Frau?«, fragt Carlos, der Portugiese schmunzelnd. Seine einst dunklen, jetzt aber stellenweise ins Graue spielenden schulterlangen Haare sind sorgfältig nach hinten gekämmt, seine Augen sind jung und wach. Einige Kursteilnehmer lachen, er lehnt sich zufrieden zurück und guckt triumphierend um sich.

Laut Statistik des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ist die Zahl der Einwanderer, die aus EU-Ländern nach Deutschland gezogen sind, in den letzten Jahren erheblich gestiegen. Die Herkunftstorte haben haben sich jedoch geändert: Neben den Immigranten aus Polen, Bulgarien und Rumänien hat sich demnach die Zahl der griechischen Staatsangehörigen verdoppelt. Seit 2011 kommen aber auch immer mehr aus Ungarn, Italien und Spanien, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Dieser Tendenz entsprechend ändert sich die Zusammensetzung der vom BAMF angekündigten Integrationskurse, in denen die Teilnehmer sowohl die deutsche Sprache lernen, als auch die kulturellen, gesellschaftlichen und rechtlichen Eigenschaften des Landes erkunden sollen.

Wer kann teilnehmen?

● Die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge angebotenen Integrationskurse für Einwanderer bestehen aus einem Sprachkurs (min. 600 Stunden) und einem Orientierungskurs (60 Stunden). Die Teilnehmer erlernen die Grundlagen der deutschen Sprache bis auf dem Niveau B1 und erkunden die Rechtsordnung, Geschichte und Kultur sowie die gesellschaftlichen Besonderheiten des Landes.

● Menschen mit Aufenthaltstitel ab 2005 haben einen gesetzlichen Anspruch auf Teilnahme, wenn sie als Arbeitnehmer, zum Zwecke des Familiennachzuges, aus humanitären Gründen oder als langfristig Aufenthaltsberechtigter in Deutschland sind. EU-Bürger können zum Integrationskurs zugelassen werden, wenn sie nicht ausreichend Deutsch sprechen oder wenn sie besonders integrationsbedürftig sind.

● Die Unterrichtsstunden kosten je 1,20 Euro. Die Teilnehmer, die Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe bekommen, bzw. sich finanziell in besonders schwierigen Lage befinden, werden vom Kostenbeitrag befreit.

BAMF

 

»Unsere Gruppen sind in den letzten zwei Jahren viel gemischter als zuvor. Wir haben viele aus den sogenannten Krisenländern, deren wirtschaftliche Lage zurzeit etwas kritisch ist: aus Griechenland, Spanien und Italien«, belegt die Statistiken Jens Höft, der für Deutsch- und Integrationskurse zuständige Ansprechpartner der Volkshochschule Mitte. Das Wohlergehen wird nicht bei allen mit der finanziellen Sicherheit gleichgesetzt, politische Migration existiert nämlich auch innerhalb der Europäischen Union. »Früher hatten wir praktisch keine Ungarn hier, jetzt sind aber mittlerweile immer einer oder zwei dabei. Sie sagen ganz offen, dass sie wegen der politischen Verhältnisse ausgewandert seien«, weist Höft auf die in demokratischer Hinsicht umstrittene Politik der ungarischen Regierung hin.

Akademiker auf der Schulbank

Obwohl die Schüler, die in den Räumen der Hartnackschule sitzen, um einiges älter sind, unterscheiden sie sich in ihren Attitüden nicht von Schulkindern. Hinten, in der sicheren Festung des Schweigens versteckt, sitzen ein Russe und ein Syrier. Sie sind die Jüngsten: Sie verschwenden keine Worte, wenn es um den Lehrstoff geht, äußern sich aber gerne, wenn ewig gültige, gesellschaftskritische Problemstellungen zur Sprache kommen. Vor ihnen thront eine Litauerin: Sie flicht ihre golden glänzenden, bronzefarbenen Haare ein, mal stöhnt sie schmerzlich vor Langweile, mal lacht sie aber voller Heiterkeit. Die neben ihr sitzende Inderin hat in ihrem Heimatsland Pharmazie studiert, muss aber ein zusätzliches Jahr im deutschen Bildungssystem absolvieren, falls sie wieder in ihrem Beruf arbeiten möchte. In den vorderen Bänken lauscht ein syrischer Maler den Worten der Lehrerin. Er war früher als Universitätsdozent tätig. Neben ihm konzentriert sich ein türkischer Arzt mit gerunzelter Stirn auf die erste Übung der neuen Lektion: »Post und Telefon«.

Die Gruppe fing im Dezember an, Deutsch zu lernen. Gemäß dem von dem Europarat empfohlenen Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen entsprechen ihre Kenntnisse dem Niveau A2, sie können also »Sätze und häufig gebrauchte Ausdrücke verstehen, die mit Bereichen von ganz unmittelbarer Bedeutung zusammenhängen (…), mit einfachen Mitteln die eigene Herkunft und Ausbildung, die direkte Umgebung und Dinge im Zusammenhang mit unmittelbaren Bedürfnissen beschreiben«.

Die Integrationskurse enden auf dem Niveau B1, wo die Lernenden »die Hauptpunkte verstehen, wenn klare Standardsprache verwendet wird und wenn es um vertraute Dinge aus Arbeit, Schule, Freizeit usw. geht«. Sie sind dann fähig, »sich einfach und zusammenhängend über vertraute Themen und persönliche Interessengebiete zu äußern«, heißt es im schönsten Amtsdeutsch. Dieser Level ist aber kaum ausreichend, wenn jemand arbeiten oder studieren will. »Den Einwanderern wird es immer mehr klar, dass B1 nicht genug ist. Die Arbeitgeber verlangen B2, die Universitäten C1. Aus den EU-Ländern ziehen extrem viele Akademiker nach Deutschland. Ärzte, Architekten, Ingenieure, die hier meistens in ihren herkömmlichen Beruf einsteigen wollen. Sie sind streng zu sich selbst, lernen schnell und sind ziemlich anspruchsvoll, weil sie wissen, wo sie hinwollen«, erklärt Jens Höft.

Andere Länder, andere Leute

»›Herr Müller hat einen neuen Kochtopf gekauft, er hat sich aber beim Kochen von Spaghetti verletzt.‹ Lesen Sie einander den Beschwerdebrief vor und schreiben Sie auf, was Sie hören«, lautet die Diktatübung im Deutschkurs der »Gruppe B1.1.« in der VHS Mitte. Die Teilnehmer bilden nun Paare, und versuchen, die Sorgen von Herrn Müller so verständlich auszusprechen, wie es nur geht. Eine eigenartige Abbildung der biblischen Geschichte der Babylonischen Verwirrung stellt sich in dem Raum dar. Jeweils auf Deutsch, aber je nach Nation anders knattern die Konsonanten, klopfen die ch-Laute, schnurren die Rs. Dann korrigieren sie den Text ihres Partners. »Ich habe viele Fehler gemacht, weil du nicht gut sprichst«, wirft Stefano, der italienische Grafiker, seinem Mitschüler Leopold vor. Er zieht empört die Augenbrauen hoch, murmelt noch einige ungebetene Worte, und versucht die Schrift seines Banknachbars zu entziffern.

Obwohl die Regeln der deutschen Aussprache relativ gut überschaubar sind, machen sie denen, die zuvor noch nie eine Fremdsprache gelernt haben, das Leben schwer. Das gilt vor allem für die Nationen, die keine lateinischen Buchstaben verwenden. »In den Gruppen mit sechzehn oder mehr Teilnehmern kann ich sie eventuell verbessern, es gibt aber keine Zeit dafür, sie einzeln zu betreuen. Viele müssen sich erst mal in einen Alpha-Kurs einschreiben lassen, damit sie wieder - diesmal auf Deutsch - schreiben lernen«, erläutert Stefan Weber, einer der Kursleiter der Hartnackschule. Seiner Erfahrung nach sei für die Araber die Unterscheidung zwischen den vorne und hinten gebildeten Vokalen nicht einfach, und dadurch dauert es bei ihnen etwas länger, bis sie die Us und Üs richtig verwenden können.

»Im Italienischen haben wir dieses ›ch‹ nicht, das man für ›ich‹ braucht, deswegen ist es für uns ein bisschen schwierig«, meint Mariarosa Bora, eine Schülerin der VHS Mitte. Die lebhafte Mimik ihres fein geschnittenen Gesichts verleiht ihren Worten einen lebhaften Nachdruck. Sie unterrichtete zuvor Kunstgeschichte an einer italienischen Universität. Da sie aber die wirtschaftliche Lage ihres Heimatslandes »ziemlich aussichtslos« findet, beschloss sie, ihre Forschungen in Deutschland fortzusetzen.

»Dieses ›Der-die-das‹ ist schwierig. Und es gibt so viele Fälle: Nominativ, Akkusativ, Dativ, und so weiter. Ich verstehe die meisten Sachen, aber ich kann nicht sprechen«, erläutert Rachid Slimani. Er kommt aus Griechenland, neben seiner Muttersprache spricht er Englisch, Französisch und Arabisch. Zurzeit lernt er Deutsch in einer A2-Gruppe in der Hartnackschule. Seine schwarzen Augen funkeln vor Entschlossenheit. Je vehementer er etwas erklärt, desto mehr englische Wörter webt er in seine Sätze ein. »Deutsch ist schwieriger als Französisch oder Englisch, weil man hier erst mal die Artikel kennen muss, und dann noch dazu auch die Deklination überlegen«, formuliert er den Jammer von tausenden Deutschlernenden. Seine Lehrerin Ilkan-Boga, macht ihren Gruppen aber lieber die sonnigen Seiten der Integrationskurse bewusst.

Heikle Themen, wie Religion und Politik, sind in solchen multinationalen Kursen dennoch nicht zu vermeiden. Wenn aber dicke Luft ist, treibt sie das Gespräch unter die Flagge der Toleranz. Trotz der Schwierigkeiten findet sie ihre Arbeit einzigartig. »Obwohl wir uns hier auf die deutsche Sprache und Gesellschaft konzentrieren, werden in den Kursen sehr viele verschiedene Kulturen vermittelt. Ich lerne jeden Tag etwas Neues von meinen Schülern.«

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