Zuflucht und Zuhause
Das ehemalige Jüdische Waisenhaus in Pankow wird 100 Jahre alt
Auf einmal wird es laut: Die große Pause hat begonnen, die Schüler der SchuleEins in Pankow toben auf dem Schulhof hinter dem Gebäude des Jüdischen Waisenhauses in Pankow. Eva Bentzien vom Vorstand des Vereins der Förderer und Freunde des einstigen Jüdischen Waisenhauses lächelt: »Die ehemaligen Zöglinge sind immer froh, dass heute wieder Leben im Gebäude ist.« Auch lautes Leben.
Die Schule und die Janusz-Korczak-Bibliothek sind heute die Mieter im hellen Gebäude, das seit genau 100 Jahren an der Berliner Straße in Pankow steht. 1913 wurde es nach Plänen des Leiters des Bauamtes der Jüdischen Gemeinde, Alexander Beer, errichtet. Bis 1940 diente es als II. Waisenhaus der Jüdischen Gemeinde. Einige Zöglinge wurden mit Kindertransporten nach Großbritannien und den Niederlanden gerettet, viele wurden deportiert und in Konzentrationslagern ermordet.
Zu DDR-Zeiten wurde das Haus als Botschaftsgebäude genutzt, zunächst von Polen, dann bis 1991 von Kuba. Danach fiel das Haus an den Staat Israel, es verfiel in den nächsten Jahren, die Eingänge wucherten zu. »Hätte es noch zehn Jahre leergestanden, hätten wir es abreißen müssen« erinnert sich Eva Bentzien, die auch für die Cajewitz-Stiftung arbeitet. 1999 kaufte diese das heruntergekommene Gebäude, 2001 konnte es nach aufwendiger Restaurierung neu eröffnet werden.
Die Geschichte des Hauses bleibt nach der Sanierung sichtbar. Im früheren Betsaal, der heute für Veranstaltungen zur Verfügung steht, blieb ein Teil der Kassettendecke unsaniert: Zerstörung als bleibende Mahnung. Zur Wiedereröffnung 2001 versuchte die Stiftung, die mittlerweile über alle Welt verstreut lebenden überlebenden Zöglinge einzuladen. Viele kommen jedes Jahr gern wieder, auch wenn die »Erinnerungen die Herzen aufreißt«, wie Eva Bentzien es beschreibt. Das Waisenhaus als Ort der Zuflucht, Zuhause; gleichzeitig Ort der Verfolgung in der Hauptstadt des Nazireiches.
Umso schöner das Erleben für die heute Erwachsenen, dass die Schüler der 2007 eingezogenen SchuleEins um die Geschichte »ihres Hauses« wissen. Ehemalige Zöglinge erzählten im Unterricht aus ihrem Leben, Fotos in der Schule erinnern daran. Der Förderverein versucht mit Publikationen und Veranstaltungen die Geschichte des Waisenhauses und des jüdischen Lebens in Pankow zu erforschen und wach zu halten. Die Benutzer der mit 13 000 Besuchern in der Woche größten Bibliothek im Altbezirk Pankow kommen am dunkelsten Teil nicht vorbei: Am Haupteingang erinnert seit 2001 eine Installation mit Stadtplanausschnitten und Hausnummern an die von den Nazis so genannten »Judenhäuser«, daneben zwei Tafeln für die damals bekannten 579 deportierten und ermordeten jüdischen Pankower Mitbürger.
Auch Alexander Beer, Architekt des Hauses und vieler anderer Bauten wie der Jüdischen Mädchenschule in der Auguststraße in Mitte, wurde 1943 nach Theresienstadt deportiert. 1944 starb er dort. Zur Erinnerung an ihn werden an diesem Mittwoch in einem Festakt zwei Gedenktafeln enthüllt, seine Tochter Beate Hammett, die 1939 neunjährig mit einem Kindertransport nach England Deutschland verlassen konnte, wird dabei sein. Dem »nd« sagt die heute 84-Jährige: »Es macht mich glücklich, wenn ich daran denke, dass mein Vater froh wäre, dass ich etwas für sein Andenken tue. Wenn ich nicht hier wäre, kein lebender Mensch mit dem die Leute reden können, wäre sein Name heute nicht mehr bekannt.«
Hammett erzählt von ihrer Kindheit in Berlin, dem Kindertransport, ihrem Leben nach 1945 in Australien. Bis heute lebt sie dort, kommt aber immer wieder nach Berlin, »auch wenn mir beim ersten Mal, 1997, alles fremd war«. Sicher auch, weil hier die Erinnerung an jüdisches Leben am Leben gehalten wird. Vom Förderverein, von Schülern, auch vom Bezirk: 2011 beispielsweise tragen sich noch lebende Zeitzeugen in das Goldene Buch des Bezirks ein. Des Bezirks, aus dem sie zur Nazizeit verfolgt und vertrieben wurden.
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