Die Summe und das Ganze

Tom Strohschneider über Wahlkämpfe, die Bilanz der gesellschaftlichen Linken seit 2009 und was ab Montag wichtig wird

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 3 Min.
Tom Strohschneider ist Chefredakteur  von »neues deutschland«.
Tom Strohschneider ist Chefredakteur von »neues deutschland«.

Wahlkämpfe haben auch diese schlechte Eigenschaft: Planmäßig steigt die Erregungskurve bis zum Tag der Stimmabgabe - und am Montag darauf ist die Sache für die meisten praktisch gegessen. Die Summe der Prozentergebnisse wird schon als das Ganze verkauft.

Dabei müsste die Sache, die man Demokratie nennt, hier erst richtig anfangen. Ein Beispiel: 2009 stürzte die SPD auf ein historisches Tief, Sigmar Gabriel wurde Parteichef und versprach, dahin zu gehen, »wo es stinkt«. Von Basisdemokratie und neuer Offenheit war die Rede. Die Sozialdemokratie wollte alte Fehler überdenken, andere Wege beschreiten. Und wo steht die SPD vier Jahre später? Ungefähr dort, wo sie 2009 am Boden lag.

Durchgesetzt haben sich Apparatelogik und Parlamentsfixiertheit, mediale Passförmigkeit. Abgrenzung nach links führte zur Selbstblockade. Selbst Korrekturen der Partei erschienen so als taktischer Kniff. Der direkte Kontakt mit dem Wähler, der Basis, geriet zur Kampagne, zur Show. Das Problem der SPD waren nicht ein falscher Kandidat, ein schlechter Wahlkampf, böse Medien - sondern das Fehlen einer gesellschaftlichen Verankerung, der Verzicht auf Rückkopplung in den Alltag der Menschen. Es fehlt ein Fundament gesellschaftlicher Mehrheit, ohne das Veränderung noch mit dem größten Mandatsvorsprung vor anderen Parteien nicht möglich wäre.

Das sozialdemokratische Elend: kein Grund zur Freude

Ein Grund zur Freude ist das sozialdemokratische Elend nicht. Die Bedingungen für soziale und ökologische Politik werden nicht dadurch besser, dass die SPD es zu vielen recht machen wollte und deshalb schwach bleibt. Und: Die gesellschaftliche Linke hat eigene Probleme, und zum Teil sind es dieselben. Wie sieht also deren Bilanz seit 2009 aus?

Die Linkspartei hat sich bundespolitisch berappelt, ein Wahlergebnis im Bereich der jüngsten Umfragen wäre ein Erfolg, und wichtig über den Rahmen dieser Partei hinaus. Die Linken in SPD und Grünen erscheinen schwach, die Zukunft der Piraten ist völlig offen. Die Gewerkschaften diskutieren noch darüber, welche gesellschaftspolitische Rolle sie spielen wollen. Es nahm auf lokaler Ebene die Zahl der Initiativen gegen Neonazis und gegen »von oben« angeschobene Bauprojekte zu. Der Widerstand gegen Rassismus wurde hörbarer, es wurde viel für Freiheitsrechte demonstriert. Man konnte mehr kapitalismuskritische Texte lesen, sogar in der FAZ. Die radikale Linke war in den Krisenprotesten sichtbar und bereit, neue Erfahrungen in Bündnissen etwa mit Sozialverbänden zu machen.

Das ist zumindest nicht nichts. Aber wie viel ist es? Im Jahr der Bundestagswahl von 2009 brachte Hans-Jürgen Urban mit dem Begriff Mosaiklinke eine neue Runde im Nachdenken über einen »Kooperationsverbund kritischer Kräfte« in Gang. Aus Gründen: Die Veränderung der Verhältnisse wird nicht die Angelegenheit einer oder dreier Parteien sein. Ja, es gibt auch Zweifel daran, ob das Bild des Mosaiks richtig gewählt ist. Und natürlich muss die Zusammenarbeit verschiedener linker Akteure in einer »gesellschaftlichen Partei« immer wieder kritisch bilanziert werden.

Aber es bleibt dabei: Die gesellschaftliche Linke kann, sie muss mehr sein als die Summe ihrer einzelnen Teile. Es wird darauf ankommen, wie es diesen gelingt, das Eigene über den jeweiligen Tellerrand hinaus zu verallgemeinern, die Widersprüche auszuhalten, auf die man dabei stößt, dort politisch zu werden, »wo es stinkt«. Erst recht nach dieser Wahl.

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