Syrien ächzt unter den Kriegsfolgen
Sechs Millionen Flüchtlinge und eine zerstörte Infrastruktur machen den Alltag zum Überlebenskampf
Kadri Jamil ist ein Mann der offenen Worte. Über den wortgewandten Wirtschaftswissenschaftler, Kommunisten, Geschäftsmann, der seit kurzem als Vizepräsident für wirtschaftliche Angelegenheiten der syrischen Regierung amtiert, gehen die Meinungen in Damaskus auseinander.
In einem Interview mit dem britischen »Guardian« in Damaskus sprach Jamil vor wenigen Tagen über die wirtschaftliche, politische und militärische Lage im Land. Bis auf die Erklärung, warum er der Regierung beigetreten sei, habe Jamil als Mitglied der syrischen Regierung gesprochen, schrieb der Guardian-Reporter Jonathan Steele. Tags darauf dementierte Jamil im Gespräch mit der libanesischen Tageszeitung »The Daily Star«. Er habe »als politischer Mensch und Angehöriger seiner Partei gesprochen, sagte Jamil der libanesischen Zeitung. Dabei habe er nicht ausdrücklich über einen «Waffenstillstand zu den Genf II Gesprächen» gesprochen, sondern gesagt, «dass die Gewalt allgemein aufhören» müsse. Er sei überzeugt, dass keine der beiden Seiten «militärisch siegen» könne, das führe er auf «ausländische Einmischung» zurück, so Jamil weiter. «Die ausländische Einmischung muss aufhören, damit die Gewalt beendet werden kann.» Auf die Frage, welche Vorschläge «seine Regierung» in Genf machen werde, habe Jamil geantwortet: «Ein Ende der ausländischen Einmischung, einen Waffenstillstand und den Beginn eines friedlichen politischen Prozesses, der dem syrischen Volk seine Selbstbestimmung in demokratischer Weise ermöglicht, ohne ausländische Einmischung», schreibt der «Guardian».
In Syrien hat das Guardian-Interview keinen Mediensturm ausgelöst. In Oppositionskreisen hat man Jamil politisch abgeschrieben, seit er nach dem Einzug ins Parlament 2012 einen Posten in der Regierung übernahm. In der Bevölkerung hat Jamil Sympathien eingebüßt, weil es ihm nicht gelungen ist, die immense Verteuerung von Lebensmitteln zu stoppen. Tage- und wochenlang tourte Jamil über Märkte und durch Geschäfte, um sein Engagement zu zeigen, ohne Erfolg. In Fernsehen und Radio versucht er die ökonomische Krise zu erläutern, eindämmen kann er sie nicht.
100 Milliarden US-Dollar habe die Ökonomie des Landes in den letzten zwei Jahren verloren sagt Jamil, umgerechnet sind das (74 Milliarden Euro). Die Folgen davon spürt jeder Syrer im Alltag. Staatliche und private Einnahmen sind durch die Sanktionen der Europäischen Union im Öl- und Gassektor und im Tourismus gestoppt, Investitionen gingen verloren. Die Plünderung oder Zerstörung der strategischen Getreidereserven müssen durch Ankauf von Getreide auf dem Weltmarkt ausgeglichen werden, anhaltende Angriffe der Aufständischen auf die zivile Infrastruktur wie das Elektrizitätsnetzwerk kosten Milliarden. Ebenso die Zerstörung und Plünderung von Fabriken, landwirtschaftlichen und medizinischen Anlagen, Forschungslabors und Ölfeldern. Die Zerstörung von Gebäuden, Brücken und Straßen gehen auf das Konto sowohl der Aufständischen als auch der Streitkräfte und kosten Millionen. Immense Summen müssen zur Versorgung von schätzungsweise 6 Millionen Inlandsvertriebenen aufgebracht werden sowie für die Versorgung von versehrten Armeeangehörigen und Hinterbliebenen von getöteten Soldaten und Offizieren. Hinzu kommen die ungezählten Verluste von klein- und mittelständischen Betrieben, Selbstständigen und denen, die durch den Krieg ihr Hab und Gut und ihre Arbeit verloren haben oder ihre Produktion einstellen mussten.
Einer von ihnen ist der Damaszener Glasbläser Abu Ahmad, der seinen Betrieb südlich des Osttors der Altstadt, dem Bab Scharki, einstellen musste. Der große Ofen ist seit Herbst 2012 kalt geblieben, erzählt der Mittfünfziger der Autorin in Damaskus. Im Juli 2012 hatten Aufständische einen ersten Sturm auf die syrische Hauptstadt gestartet, Abu Ahmed beschloss, den Heizöltank auf dem Dach zu leeren und abzutransportieren. Er hatte Angst, die Werkstatt könne durch herumfliegende Geschosse in Flammen aufgehen. Das Geschäft mit den Touristen sei gut gelaufen, sagt Abu Ahmed. Doch seit mehr als zwei Jahren habe er keine Ausländer mehr gesehen. Gläser und Karaffen, Vasen und Teller stehen verstaubt in den Regalen. In einer anderen, kleineren Glasbläserei im Zentrum der Stadt werden nur noch Glaskugeln geblasen, die zu traubenförmigen Leuchtern zusammengebunden werden. «Wir überleben nur, weil zwei französische Großhändler uns diese Lampen weiter abkaufen», sagt Abu Ahmad.
In der Altstadt von Damaskus hat sich das Leben geändert. Immer mehr junge und alte Frauen tragen Schwarz, an den Hauswänden hängen unzählige Todesanzeigen. Die gedenken alten und kranken Verstorbenen ebenso, wie Menschen, die bei Anschlägen oder im Militärdienst getötet wurden. Vor der syrisch-orthodoxen Kirche in der Bab Touma Straße erinnern große Transparente an die beiden unweit der türkischen Grenze entführten Bischöfe Gregorios Yohanna Ibrahim und seinen griechisch-orthodoxen Amtsbruder Bulos (Paul) Yazigi. Seit fünf Monaten hat man nichts von ihnen gehört. «Für euch und für alle Syrer beten wir», steht auf dem Transparent.
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