Ein Vierteljahr für eine Regierung
Die Wiesbadener Wahlnacht war lang und aufregend - und ihre Folgen sind noch längst nicht ausgemacht
Dass die Wahlnacht in Hessen noch spannender und länger als erwartet war, dürfte auch eine Folge von Organisations- und Auszählungspannen in einigen Gemeinden gewesen sein. Anderswo mussten die Wahlhelfer dem Vernehmen nach einen starken Ansturm kurz vor 18 Uhr bewältigen und den Urnengang verlängern. So verkündete Landeswahlleiter Wilhelm Kanther in der Nacht zu Montag erst um halb drei in das vorläufige Endergebnis für die Landtagswahl im Sechsmillionenland zwischen Neckar, Rhein und Werra.
Erst wenige Minuten zuvor war die Sensation perfekt, als die letzte Hochrechnung der Hessen-FDP doch noch die Fünf vor dem Komma verhieß. Weil die Liberalen zuvor stundenlang darunter zu liegen schienen, hatte auch die von Ministerpräsident Volker Bouffier geführte CDU nur wenig Freude an ihrem mäßigen 1,1-Prozent-Zuwachs gegenüber der Wiederholungswahl von 2009. Die Union bleibt damit stärkste Partei - ist aber noch meilenweit von der psychologisch wichtigen 40 Prozent-Marke entfernt. Und erst recht von den 48,8 Prozent, die ihr 2003 eine absolute Mehrheit beschert hatten. Dank der zeitgleich stattfindenden Bundestagswahl war die Wahlbeteiligung diesmal mit 73,3 Prozent deutlich höher als 2009. Bis 1991 waren allerdings Werte über 80 Prozent üblich.
»Ein richtig geiler Abend, weil wir wieder da sind«, gab sich SPD-Spitzenkandidat Thorsten Schäfer-Gümbel ausgelassen. Seine Partei konnte sich im Land zwar vom Bundestrend abkoppeln und immerhin 30 Prozent überspringen. Angesichts der 36,7 Prozent, die die Partei beim Urnengang 2008 mit Andrea Ypsilanti eingefahren hatte, schienen allerdings auch die nun gewonnenen sieben Prozentpunkte blasser: Die Hessen-SPD, die früher regelmäßig über 40 Prozent errang, fuhr am Sonntag ihr drittschlechtestes Ergebnis der Nachkriegszeit ein.
Wenig Freude verhieß der Wahlausgang den Grünen, die als Wunschpartner der SPD angetreten waren. Für ihren Spitzenmann Tarek al Wazir war dies bereits der vierte Anlauf als Spitzenkandidat im Lande. »Ohne die Linkspartei hätten wir jetzt Rot-Grün«, beklagte sich Al-Wazir am Wahlabend über den dritten Landtagseinzug der LINKEN in Folge.
Diese Analyse stimmt allerdings nicht. Ohne die sechs Mandate der Linksfraktion hätte Schwarz-Gelb mit 53 Sitzen gegenüber den 51 rot-grünen Abgeordneten die Nase vorn. Mit dem Absturz der Liberalen von 16,2 auf glatt fünf Prozent ist Schwarz-Gelb nach Bayern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein nun auch in Hessen abgewählt. Selbst der Wiedereinzug einer auf sechs Sitze geschrumpften FDP-Fraktion in letzter Sekunde ändert nichts an der Neuauflage der sprichwörtlichen »Hessischen Verhältnisse«, die schon 2008 für Dramatik gesorgt hatten.
Damals blieb die CDU-Alleinregierung unter Roland Koch geschäftsführend im Amt. SPD, Grüne und LINKE setzten gegen den Bürgerblock aus CDU und FDP die Abschaffung von Studiengebühren durch. Später bremsten konservative SPD-Abweichler die geplante Bildung einer von der LINKEN tolerierten rot-grünen Regierung aus.
Dass die Linkspartei erneut den Einzug in einen West-Landtag schaffen würde, zeichnete sich schon in ersten Trendmeldungen ab, die ihr zwischen fünf und sechs Prozent verhießen. Spätabends erlebten die Anhänger der 2007 gegründeten Partei dann doch noch eine Zitterpartie, als die Werte der Hochrechnungen bedenklich sanken. Mit der Bestätigung ihrer parlamentarischen Existenz hat die Hessen-LINKE indes ein kleines Wunder mit bundesweiter Signalwirkung vollbracht. Mit 5,2 Prozent schickt sie zum dritten Mal in Folge sechs Abgeordnete in den Wiesbadener Landtag. Das nimmt einigen Diskussionen über Erfolg oder Misserfolg der »Westausdehnung« die Schärfe.
»Wir haben es geschafft, innerparteiliche und außerparlamentarische Arbeit zu verknüpfen«, freute sich der LINKE-Abgeordnete und Gewerkschafter Hermann Schaus. In dieser Hinsicht wichtig dürfte die Positionierung der Partei und ihrer Spitzenkandidatin Janine Wissler in der Bewegung gegen Fluglärm rund um den Frankfurter Rhein-Main-Flughafen gewesen sein. In den betroffenen Kommunen und Vierteln verzeichnete die Linkspartei erhebliche Zuwächse. Zugute kam ihr auch die höhere Wahlbeteiligung im Windschatten der Bundestagswahl.
Da sich der neu gewählte Landtag erst am 18. Januar 2014 konstituiert, haben die Strippenzieher in Wiesbaden nun gut drei Monate Zeit, um eine Regierungsneubildung auszuloten. Rechnerisch möglich wären mehrere Varianten, die zumindest in hessischen Kommunen bereits praktiziert werden: So regieren CDU und SPD im Wiesbadener Rathaus und damit in unmittelbarer Nachbarschaft des Landtags. In Frankfurt und Darmstadt koalieren CDU und Grüne, im mittelhessischen Alsfeld kooperieren SPD, Grüne und LINKE-Kommunalpolitiker.
Zu welchem Preis und ob überhaupt SPD oder Grüne ihrer Basis eine Koalition mit der Bouffier-CDU vermitteln könnten, bleibt abzuwarten. Am Tag danach hielt man sich allerseits bedeckt.
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