Reiche Hamburger in Panik vor modebewussten Autonomen

Das autonome Zentrum Rote Flora rief zur »Riot-Couture« in einen Stadtteil der Reichen Hamburgs

  • Gaston Kirsche
  • Lesedauer: 5 Min.

In Pöseldorf sind an normalen Tagen Damen und Herren im karierten Sakko und mit echten Golduhren auf der Straße unterwegs, Frauen auch in Kostümen oder teuren Kleidern. In dem kleinen Wohnquartier, beschaulich direkt an der Außenalster zwischen Eichenpark und dem Hamburger Spielcasino gelegen, sind die Villen weiß und die Fußwege schmal. Edelboutiquen reihen sich hier an Antiquitätenläden, eine hochpreisiger als die andere. Ein in sich nahezu geschlossenes Quartier für Fahrer von Sportwagen und Designerkinderwägen.

Das Gegenstück zu einem Arbeitslosenschließfach, wie auf der Veddel. Hamburg ist sozial stark segregiert und so verwundert es nicht, dass es außer einer Punkversammlung im Mai 1981, bei der einige Schaufenster eingeschmissen wurden, in diesem distinguierten Ambiente Protestaktionen nicht stattfinden.

Pöseldorf /Harvestehude

Pöseldorf ist der reichere Teil des wohlhabenden Hamburger Stadtteils Harvestehude. Die Daten beziehen sich auf den gesamten Stadtteil.

Pro-Kopf-Einkommen:
73.800 Euro Harvestehude,
32.505 Euro Hamburger Durchschnitt,
17.000 Euro Veddel (ärmster Stadtteil).

Anteil der Hartz-IV-Beziehenden:
3, 5 % Harvestehude,
26,8 % Veddel

Anteil der Arbeitslosen:
3, 2 % Harvestehude,
11 % Veddel

PKW pro 1.000 Einwohner:
396 Harvestehude,
151 Veddel

Wohnraum pro Person:
53 qm Harvestehude
25 qm Veddel

Wertveränderung Wohneigentum 2001 – 2011 pro Jahr:
+ 2,5 % Harvestehude
- 5,4 % Steilshoop (Veddel kaum Eigentum)


Quellen: Angaben für 2012 vom Statistikamt Nord, Studie „Liebenswertes Hamburg“ der Hamburger Sparkasse 2012.

Dienstag Abend war Pöseldorf jetzt im Ausnahmezustand: die Kampagne »Flora bleibt unverträglich« hatte zu einer »Autonomen Modenschau« aufgerufen. Hintergrund der Aktion sind seit Wochen kursierende Gerüchte über einen geplanten Verkauf des autonomen Kulturzentrums, dessen Grundstück ein Filetstück für Immobilienhändler sein könnte, wenn dort nicht die Rote Flora stehen würde. Immer wieder genannt wird dabei der Name des Immobilieninvestors Gert Baer als einer der möglichen Kaufinteressenten. Baer soll dem aktuellen Eigentümer des Floragebäudes, Klaus-Martin Kretschmer, aus finanziellen Nöten geholfen haben.

Zwangsversteigerungen abgesagt

Fakt ist: Baer sagte für Kretschmer die Zwangsversteigerungen von dessen Immobilien ab. Als Gegenleistung soll Kretschmer Baer die Flora überlassen haben. Der Inhaber einer Consulting-Firma bestreitet dies: Er habe Kretschmer nur beraten. Aus Kreisen der Roten Flora heißt es aber: Baer habe sich erwiesenermaßen ihren Grundbucheintrag angeschaut. »Die Zeichen der Zeit stehen zweifelsohne auf Sturm«, schrieb die Solidaritätskampagne »Flora bleibt unverträglich« in ihrem Aufruf zur Modenschau: »Während in der Schanze und in Wilhelmsburg die Trends der kommenden Aufstände zu finden sind, während sich in Steilshoop und Neuwiedenthal die Think Tanks der kommenden Street Art befinden, bilden gutbetuchte, konservative Stadtteile wie Blankenese oder Pöseldorf immer noch die rückständigen Problemviertel der Marke Hamburg von morgen.«

Auf dem Plakat für die Modenschau tänzelt vor einer edlen, von pyrotechnischen Explosionen illuminierten Hauszeile ein Autonomer mit schwarzem Hemd, Stiefeln und Gasmaske, im weißen Röckchen auf der Straße. Die lokalen Boulevardmedien erregten sich über den Aufruf: Die »Rote Flora droht: Wir stürmen Pöseldorf« titele die Hamburger Morgenpost und Bild Hamburg »300 Chaoten wollen Milchstraße stürmen. Wasserwerfer sollen Pöseldorf schützen!”. Der Anlass waren Formulierungen im nicht ohne Selbstironie formulierten Aufruf wie: «Die Menschen haben dort häufig kaum Erfahrung und große Scheu, wenn trendige Sturmhauben, schwarze Helme oder andere innovative Accessoires im Straßenbild auftauchen. Dabei gehören Barrikaden, Scherbendemos oder zerstörte Luxuslimousinen im Fall einer Räumung der Roten Flora bald möglicherweise zum Alltag in genau diesen Stadtteilen.»

An der Kundgebung mit «autonomer Modenschau» nahmen am am Dienstagabend über 400 Menschen teil – und demonstrierten so für den Erhalt der besetzten Roten Flora. In Pöseldorf auch deswegen, weil Gerd Baer hier unlängst eine Luxuseigentumswohnung gekauft habe, hieß es aus dem Lautsprecherwagen: «Mit hohem finanziellen Einsatz und trotz aller Risiken für sich selbst und das geschäftliche Umfeld in Pöseldorf hat er die Rote Flora in sein Immobilien-Portfolio aufgenommen» stand bereits im Aufruf: «Sie kannten Autonome bisher nur aus der Zeitung? In Ihrer Straße gab es noch keine Vermummten? Pink and Silver halten Sie für ein Duo? Dies wird sich ändern» erklärten die Organisatoren der polizeilich angemeldeten Veranstaltung.

Angeblich bevorstehende Krawalle

Nachdem die Hamburger Morgenpost und Bild-Zeitung daraus Meldungen über angeblich bevorstehende Krawalle und militante Auseinandersetzungen gemacht hatten, äußerten Ladenbesitzer Unmut über die geplante Autonome Modenschau: «Ich finde das Ganze total schwachsinnig. So eine Demo bewirkt gar nichts», zitierte die Morgenpost eine Jessica H., Tanja B. findet die Demonstration «schrecklich und störend für alle», Thomas Stiebritz, Inhaber des Pöseldorfer Vodafone-Shops stellte gleich das Versammlungsrecht in Frage: «Ob Krawalle oder nicht, ich bin sowieso gegen Demos. Das ist doch nur störend und belästigend für alle anderen.» Entsprechend schlossen zahlreiche Geschäfte am Dienstagabend früher, einige Inhaber vernagelten vorsorglich ihre Schaufenster mit Spanplatten wegen der befürchteten Ausschreitungen, Deutsche Bank und «Pöseldorf Center» meinten obendrein, ihre Kundschaft warnen zu müssen. Ein nahe gelegener Hockeyclub sagte das Kinder- und Jugendtraining ab, zahlreiche Polizisten patrouillierten vor Läden und Villen.

Tatsächlich blieb es ausgesprochen friedlich. Nach Redebeiträgen zur Situation um die Rote Flora, nutzten weitere Initiativen die Kundgebung für Statements zur Situation von Flüchtlingen in Hamburg und zu Mobilisierung für die bundesweite Mietendemonstration am kommenden Samstag. Die dann in einem durchaus professionellen Rahmen gezeigten «Modestrecken» thematisierten Protestkulturen vom Punk bis Pussy Riot. Begleitet von Musik, einer Lichtshow waren auf einem eigens aufgebauten Laufsteg autonome Straßenkämpfer im Outfit der 80er zu sehen – mit Motorradhelm, Palästinensertuch, weiten Hosen für Wasserflaschen zum Ausspülen von Tränengas, und für den handlichen Bolzenschneider, wie begleitend erläutert wurde. Auch Castor- und Bauwagenaktivisten zeigten ihre Styles. Letztere hatten sich in einen kleinen Kinderbauwagen gesetzt.

Nach zwei Stunden endete die Kundgebung, ohne das die in den Nebenstraßen zahlreich postierte Polizei einen Anlass zum Eingreifen gesehen hatte. Die Polizei hatte es nur zur Auflage gemacht, dass die Accessoires des Straßenkampfes auf dem Laufsteg und im Lautsprecherwagen verbleiben und sich sich nur auf dem Laufsteg vermummt wird. Eine rundum gelungene Parodie im feinen Pöseldorf Kreativ, informativ, witzig. Und trotzdem ein Wink mit dem Pflasterstein, was im Falle einer Räumung der Roten Flora an Protesten auf Hamburg zukommen würde.

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