Der NSU ist zu viel für ein Gericht
Oberlandesgericht in München setzte Zeugenbefragungen fort und warf neue Fragen auf
Der Prozess gegen mutmaßliche Überlebende, Drahtzieher und Helfer der Neonazi-Terrorgruppierung ist schon jetzt einer der größten Strafprozesse, die es in Deutschland gegeben hat. Die Anklageschrift misst fast 500 Seiten, die Ermittlungsakten füllen mehr als 600 Ordner. Die fünf Angeklagten werden von einem knappen Dutzend Verteidiger beraten, die Nebenkläger bieten über 40 Anwälte auf. Dutzende Sachverständige und Hunderte Zeugen haben ihre Ladung vom Münchner Oberlandesgericht schon erhalten.
Die Erwartungen an die Justiz sind hoch - und falsch adressiert. Das Gericht, das gestern seinen 38. Verhandlungstag absolvierte, hat nur die Aufgabe, individuelle Schuld zu klären und zu bewerten. Schon damit scheint die Strafkammer - wie mehrfach deutlich wurde - überfordert zu sein.
Aufklärung scheitert an simplen Fragen. Wie wurde das Quartier in der Zwickauer Frühlingsstraße angezündet, in dem die beiden NSU-Mörder Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, die sich angeblich selbst richteten, mit der jetzt angeklagten Beate Zschäpe gewohnt haben sollen? Was war die Zündquelle? Teelichter sagen Experten. Geht nicht, sagen Experten. Eine Klärung ist wichtig, Zschäpe ist der schweren Brandstiftung angeklagt. Mit »es könnte sein ...« ist schwer ein bestandfähiges Urteil zu sprechen.
Immer wieder tauchen bei den Vernehmungen neue Fragen auf, scheinbare Details. Aus dem Brandschutt haben Ermittler unter anderem einen Bibliotheksausweis asserviert. Der ist auf Beate Zschäpe ausgestellt, stammt aber aus Hannover. Hat die Angeklagte dort gelebt oder war sie zumindest öfter vor Ort, als der dort wohnende mitangeklagte Thomas Gerlach zugegeben hat? Der Ausweis könnte wichtig sein, wenn man über Gerlachs Tatbeitrag befindet.
Es fällt bisweilen schwer, der Logik der Verhandlungstage zu folgen, denn das Gericht arbeitet nicht die einzelnen Fälle durchgehend ab. Gestern war - wie bereits am Dienstag - der »Fall Theodorus Boulgarides« aufgerufen. Am 15. Juni 2005 fand sein Teilhaber ihn als siebtes NSU-Opfer tot im Laden des Münchner Schlüsseldienstes. Für die Angehörigen bedeutete die Tat, wie sein Teilhaber vor Gericht aussagte, die »totale Zerstörung«. Die Mutter bekam Angstzustände, sie sei zunächst nach Griechenland zurückgekehrt, da sie in Deutschland keine Existenzgrundlage mehr sah. Und weil die Polizei keineswegs vorurteilslos ermittelte. Man verdächtigte die Familie und Freunde, habe sie »in den Dreck ziehen wollen«, sagte der Zeuge.
Abermals zeigte sich, dass die Ermittlungsbehörden zwar intensiv nach kriminellen Verstrickungen der NSU-Opfer suchten, die Möglichkeit eines fremdenfeindlichen Motivs hingegen kaum in Betracht zogen. Dieser Skandal allein wäre Grund genug für Recherchen, die tiefer gehen müssten, als die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse bisher gelotet haben. Doch damit ist jedes Gericht überfordert. Ein Grund mehr, dass sich die Gesellschaft, allen voran die Abgeordneten, nicht aus der Verantwortung stehlen dürfen. Zu fragen ist außerdem: Was ermitteln eigentlich der Generalbundesanwalt und das Bundeskriminalamt?
Boulgarides' Witwe und seine beiden Töchter waren als Nebenkläger anwesend, verließen jedoch den Gerichtssaal aus naheliegenden Gründen, als Tatortfotos gezeigt wurden. Auch wenn die Täter es vermieden haben, bei vergleichbaren Morden sonst übliche Beweisstücke zurückzulassen - der Ablauf der Hinrichtung ist gut rekonstruiert. Doch: Warum brachte der NSU den 31-Jährigen um? Er passt - so wie das zehnte und letzte Opfer, die Polizeibeamtin Michelle Kiesewetter - nicht ins Opferschema. Die Männer, die vor Boulgarides vom NSU umgebracht wurden, waren Türken. Boulgarides aber war Grieche. Der Mord an Boulgarides - ein Irrtum?
Das widerspricht anderen Fakten. Beim Münchner Prozess wurde herausgearbeitet, dass die Mörder regionale Unterstützer gehabt haben müssen. Das belegen auch Zeitungsausschnitte, in denen über die Morde berichtet wird. Auffällig: Die Artikel stammen aus regionalen Blättern. Sie lagen - sortiert und nummeriert - im Zwickauer Brandschutt. Auf zwei Artikeln fanden die Ermittler Fingerabdrücke Zschäpes.
Auf der gestrigen Zeugenliste standen zwei Kriminalbeamte des Polizeipräsidiums Nordhessen. Sie sollten zum »Fall Halit Yozgat« aussagen. Der verspricht politisch Spannendes. Halit Yozgat besaß in Kassel ein Internetcafé. Zur Tatzeit chattete dort ein Mann vom Landesamt für Verfassungsschutz, der wohl mehr als nur berufliche Kontakte ins Rechtsaußen- und ins Rockermilieu hatte. Er ist für den 1. Oktober als Zeuge geladen. Der damalige Landesinnenminister Volker Bouffier, heute Ministerpräsident, hatte bei den Ermittlungen eine Vernehmung durch die Polizei verhindert.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.