Der letzte, verzweifelte Versuch
Vom Fortschritt zur Apologetik - Oder warum die Freien Liberalen ein Auslaufmodell sind
Die Neoliberalen, der Linken Lieblingsfeind (wie auch umgekehrt), berufen sich auf ihre scheinbar vornehme Herkunft. Francois Quesnay (1694 - 1774), Adam Smith (1723 - 1790), David Ricardo (1772 - 1823), die Klassiker der Politischen Ökonomie, traten für wirtschaftliche Freiheit ein. »Laissez faire et laissez aller - le monde va de lui meme.« Lasst sie machen, lasst sie gehen, die Welt dreht sich von allein. Ein großer Satz - Sinnspruch des klassischen Liberalismus. Er war, als im 18. Jahrhundert die industrielle Revolution begann, die richtige Antwort auf die Frage, wie man die Wirtschaft am besten organisieren kann.
Vernunft, das ist Natur, und das Natürliche bedeutete den Altliberalen Freiheit. Das Laissez-faire-Prinzip besagt, dass es der Wirtschaft am besten geht, wenn sich der Staat aller Eingriffe enthält. Indem er seine egoistischen Interessen verfolgt, fördere der Einzelne das Wohl der Allgemeinheit weit mehr, als wenn dies seine Absicht ist. Diese Ansicht war zeitbedingt richtig und förderte die Entwicklung des Kapitalismus. Dessen schärfste Kritiker loben: »Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen«, so Karl Marx und Friedrich Engels.
»Der Sozialstaat muss von den ideologisch hochfliegenden Zielen der Ungleichheitsminderung und Statussicherung Abschied nehmen. Er ist nicht zur Finanzierung marktunabhängiger Bürgerlichkeit da.«
Wolfgang Kersting, bis 2011 Professor für Philosophie an der Universität Kiel
»Der Riesen-Bärenklau, das drüsige Springkraut und die Wasserpest gehören zu den Pflanzen, die Naturschützern einen Schrecken einjagen, weil sie sich ausbreiten wie der Teufel. Sie verändern das Landschaftsbild, verdrängen andere Pflanzen, zerstören das biologische Gleichgewicht.
Was Wasserpest und Co. für die Natur sind, das sind Neoliberalismus, Marktradikalismus und Thatcherismus für die Politik. Sie säen eine gefährliche Botschaft aus: »Je weniger Staat, desto besser; der Markt reguliert sich selbst.«
Heribert Prantl, Ressortleiter für Innenpolitik in der »Süddeutschen Zeitung«
Doch es gab frühe Einwände: Charles Fourier (1772 - 1832), der französische Utopist, warnte davor, anzunehmen, dass dem Gemeinwohl am besten gedient sei, wenn jeder Einzelne nur nach höheren Gewinnen strebt. Im Gegenteil: Einzelinteressen können gegen das Gesamtinteresse wirken. »Der Geistliche ist interessiert, dass es viele Tote gibt, und zwar viele reiche Tote, Beerdigungen á 1000 Franken. Der Richter ersehnt jährlich wenigstens 45 000 Verbrechen und dass möglichst in jeder Familie ein gerichtliches Verfahren durchgeführt wird, damit die Gerichtshöfe stets beschäftigt, also notwendig sind. Der Wucherer wünscht Hungersnot, der Weinhändler und Glaser Hagel, der die Ernte vernichtet und alle Scheiben in den Häusern zertrümmert. Architekten und Baumeister ersehnen Feuersbrünste, die Teile der Stadt in Schutt und Asche legen.« Die Pharmakonzerne wünschen, dass es viele Krankheiten geben möge, denn sie würden zugrunde gerichtet sein, stürbe alle Welt ohne Krankheit.
Im Jahre 1937 erschien das Buch »The Good Society« des Amerikaners Walter Lippmann. Der Autor provozierte die Elite mit der These, dass der Liberalismus dem Kollektivismus unterlegen sei. Aufgeschreckt trafen sich ein Jahr darauf in Paris renommierte Liberale, um über eine Neuausrichtung zu debattieren. Ernüchterung und Enttäuschung aber breiteten sich schon gegen Ende des 19., zu Beginn des 20 Jahrhunderts aus, als sich in der Wirtschaft Defekte und Verwerfungen zeigten.
Wirtschaftliche Freiheit hatte große Kapitale hervorgebracht. Monopole beseitigten die freie Konkurrenz. Wirtschaftliche Freiheit hatte den Reichtum weniger und die Armut vieler gemehrt. Sie hatte sich als die Freiheit der Stärkeren erwiesen. Die soziale Balance war aus den Fugen geraten. Der Engländer John Maynard Keynes (1883 - 1946) verkündete daraufhin 1926 das Ende des Laissez faire. Spätestens nach dem Schock, den die Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1932 auslöste, war ein »Weiter so« unmöglich geworden. Das Laissez-faire-Prinzip hatte sich ad absurdum geführt. Und mit ihm die Idee des Nachtwächterstaates, der nichts anderes tun sollte, als das freie Unternehmertum zu schützen. Staatliche Versuche, die wirtschaftliche Katastrophe zu beseitigen, waren gescheitert.
Der Nationalökonom Walter Eucken (1899 - 1950) sowie die Rechtswissenschaftler Hans Großmann-Doerth (1894 - 1944) und Franz Böhm (1895 - 1977) hoben Ende der 1920er Jahre an der Universität Freiburg den Ordoliberalismus aus der Taufe. Die »Freiburger Schule« stand der etwa zeitgleich von Henry Simons (1899 - 1946) und Frank Knight (1885 - 1972) an der Universität Chicago gegründeten Denkrichtung nahe. Deutsche und Amerikaner lehnten das sowjetische Wirtschaftsmodell ab und glaubten weiter an die Heilwirkung des Marktes. Neu war die Kritik an dessen monopolistischen Deformierungen, an Bank- und Unternehmenskonzentrationen, an Kartellen, Krisen und fehlerhaften staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft. Sie wollten das System der Geschäftsbanken durch hundert Prozent Mindestreserven regulieren und die Giral- und Investmentbanken strikt trennen. Sie waren dafür, die Zentralbank einem automatischen Geldpolitikmechanismus zu unterwerfen. Die Bindung an eine Geldwarenreserve, z. B. Gold, sollte verhindern, dass die Geldmenge zu stark steigt und fallweise geldpolitische Eingriffe überflüssig machen.
In Freiburg und Chicago wurde die Rolle des Staates neu bestimmt: Der Staat habe Regeln zu setzen und den Wettbewerb zu ordnen. Er solle mittels Preisregulierungen die Konkurrenz ergänzen, diese durch eine Wachstumspolitik stabilisieren und durch eine Verteilungspolitik deren unsoziale Ergebnisse korrigieren. Keine zentrale Wirtschaftslenkung sozialistischer Art, aber ein »liberaler Interventionismus« sei nötig, so Alexander von Rüstow (1885 - 1963), der 1938 auch den Begriff »Neoliberalismus« prägte. Die Ordoliberalen wollten die Wirtschaft als Spiel organisieren, dessen Regeln der Staat setzt. Ihr Credo: Der Staat schafft den Ordnungsrahmen, innerhalb dessen sich die privaten Kapitale frei entfalten. Sie übersahen dabei, dass monopolistische Macht und Polarisierung des gesellschaftlichen Reichtums keine Störungen oder Entartungen, sondern die Folgen des marktwirtschaftlichen Prinzips sind, so wie Kriege um Rohstoff- und Absatzmärkte, Überproduktionskrisen, verpfuschte Verkehrsplanung und wilde Finanzspekulationen.
Doch ihre Kritik an den Zuständen war aufrichtig. Wir wenden uns »im Namen der echten Marktwirtschaft«, so Wilhelm Röpke (1899 - 1966), »gegen Monopolisierung, Konzentration und Kolossalkapitalismus«. Wir sind »für eine Milderung der Härten und Reibungen zugunsten der Schwachen.« Wir haben »unsere Wahl getroffen zugunsten des Klein- und Mittelbetriebes in allen Wirtschaftszweigen, zugunsten alles Maßvollen ... der Dezentralisation der Volkswirtschaft.«
Das Ideal der Ordoliberalen ist das gewerbereiche schweizerische Dorf: 3000 Seelen, ein vorzügliches altes Gasthaus, Bauernhöfe, alle notwendigen Handwerker und Berufe im Ort, eine geschmackvolle Buchhandlung, ein Laden für Musikinstrumente, die Sekundarschule, saubere Häuser und liebevoll gepflegte Gärten. Das Dorf, gekrönt von einem alten Schloss, liegt inmitten der lieblichsten Landschaft - »eine menschliche Siedlung, wie sie nicht erfreulicher gedacht werden kann.« Die Sozialromantik hat ihren Charme und ihren rationellen Kern. Heute kann man sich eine umweltgerechte Produktionsweise ohne eine stärkere regionale Organisation der Wirtschaft nur schwer vorstellen.
Die Nazis erschwerten ordoliberale Forschungen. Der Ordoliberalismus stand im Widerspruch zur »völkischen Wirtschaftslehre«, der in den 1930er Jahren herrschenden Lehrmeinung. Bei aller Kritik an der unzulänglichen Erfassung der veränderten Realität, an weltfremden, wenn auch sympathischen Vorstellungen, »wer wollte verkennen«, schreiben die DDR-Ökonomen Werner Krause und Günther Rudolph über die Ordoliberalen, »dass angesichts der lautstarken Propagierung der «gelenkten Wirtschaft» durch die faschistischen Ökonomen ... die Kritik an ihr eine bemerkenswerte Erscheinung war.« Alfred Müller-Armack (1901 - 1978) entwickelte auf ordoliberaler Grundlage dann 1946 das Konzept der »Sozialen Marktwirtschaft« - eine Synthese von Marktfreiheit und sozialem Ausgleich.
Die heutigen Neoliberalen lehnen den starken Sozialstaat ab. Nachdem der real existierende Sozialismus unterging, habe die Soziale Marktwirtschaft als Ordnungsmodell ausgespielt. Der Rückkehr zum »gewöhnlichen« Kapitalismus steht nichts mehr im Wege. Deshalb: soziale Leistungen kürzen, staatliche Sektoren privatisieren, Märkte deregulieren, Lohnstückkosten senken, Wettbewerbsfähigkeit erhöhen. Der Staat solle sich aus der Wirtschaft heraushalten. Er darf aber weiterhin private Verluste übernehmen und Investoren finanziell unterstützen.
Neoliberale Wirtschaftspolitik verkehrt den Grundgedanken der Ordoliberalen ins Gegenteil: Sie stärkt die Starken und schwächt die Schwachen, forciert die Umverteilung von unten nach oben. Sie begünstigt die Konzentration ökonomischer Macht, die Ordoliberale abbauen wollten, stellt die Interessen der Wirtschaftsmächtigen und Eliten über das Gemeininteresse. Der ahistorische Transfer von Glaubenssätzen aus der Schatzkiste der ökonomischen Klassik ist ungeeignet, den von Krisen heimgesuchten Kapitalismus zu gesunden. Die altliberalen Losungen sind zu Apologetik verkommen. Vor Jahrhunderten unterstützten sie den Durchbruch der fortschrittlichen kapitalistischen Produktionsweise, heute festigen sie deren monopolistische Deformierungen und die soziale Ungleichheit. Der US-amerikanische Ökonom John Kenneth Galbraith (1908 - 2006) nannte neoliberale Absichten, den Staat aus der Wirtschaft hinauszudrängen, aber mit seiner Hilfe die freie Konkurrenz sichern zu wollen, sehr treffend »den letzten verzweifelten Versuch eines resignierenden Verstandes.«
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