Streiken, rausgehen, sichtbar sein

Arbeitskämpfer berieten bei einem Ratschlag in Kassel über Strategien für den Einzelhandel

  • Hans-Gerd Öfinger
  • Lesedauer: 3 Min.
Wie können Beschäftigte und Gewerkschaften in die Offensive kommen? Wie nervt man Geschäftsführungen, die Streikbrecher einsetzen? Vernetzung ist eine Antwort auf die Fragen.

Schrumpfende Stammbelegschaften mit immer weniger Vollzeitbeschäftigten und immer mehr Teilzeit- und geringfügig Beschäftigten diagnostizierte die Sozialwissenschaftlerin Sandra Saeed: »Werkverträge breiten sich etwa bei der Warenverräumung dramatisch aus.« Prekäre Beschäftigung bewirke mehr Stress für die Stammbelegschaften. Denn sie stünden unter dem Zwang, als »Ankerkräfte« den Betriebsablauf sicherzustellen und andere anzulernen. »Durch die Praxis der geringfügigen Beschäftigung«, würden Teilzeitkräften in ihren prekären Arbeitsbedingungen gehalten - obwohl viel von ihnen länger arbeiten wollen.

Derlei Erkenntnisse bestätigten anwesende Gewerkschafter bei dem Ratschlag in Kassel, zum dem die Rosa-Luxemburg-Stiftung und die Linksfraktion im Bundestag am Montag eingeladen hatten. Rund 150 Menschen waren der Einladung gefolgt. »Viele arbeiten befristet und in Teilzeit und müssen auf Abruf zur Arbeit kommen müssen«, so die Erfurter H&M-Verkäuferin Christiane Thämer. »Teilzeitkräfte müssen regelrecht betteln, um mehr Stunden zu bekommen«, berichtete der Braunschweiger IKEA-Betriebsrat Uwe Hamelmann: »IKEA ist eines der erfolgreichsten Unternehmen im Lande und trotzdem haben wir Beschäftigte, die am Wochenende zu den Tafeln müssen.«

Viele ver.di-Mitglieder nutzten die Veranstaltung zum Erfahrungsaustausch. »Ich habe hier Stuttgarter Kollegen getroffen, die ich sonst nur von Facebook kenne«, freute sich Jan Richter, Betriebsrat bei der H&M-Filiale in der Berliner Friedrichstraße. Über ihr Engagement zur Organisierung der Leipziger Amazon-Belegschaft berichteten zwei Kommissionierer, die bei dem Versandhändler seit Monaten um die Anerkennung des Tarifwerks für den Einzelhandel kämpfen. Im Gespräch mit Erfurter Beschäftigten des Versandhauses Zalando erinnerten sie sich »an die Anfänge, als wir alle nur befristet eingestellt waren und mit 7,76 Euro angefangen haben«, so der Leipziger Thomas Rigol.

In den Diskussionen ging es immer wieder um fantasievolle Streikformen. »Ein Streik muss den Arbeitgebern wehtun und darf nicht langweilig werden«, so der Stuttgarter ver.di-Aktivist Rafael Mota Machado. Er berichtete über Streikposten, die sich singend im Kreis drehen, und Unterschriftensammlungen, die zu Gesprächen mit Passanten anregten. Man könne auch direkt »aus einer Betriebsversammlung heraus zum Streik aufrufen«, so Uwe Hamelmann vom Braunschweiger IKEA-Möbelhaus. »Auch Rein-Raus-Streiks zeigen Wirkung«, sagte die Berliner ver.di-Sekretärin Carla Dietrich. Externe Streikunterstützer könnten etwa in einen von Streikbrechern und Filialleitung weiter betrieben Laden gehen und mit einem 500-Euro-Schein einen 99-Cent-Artikel erwerben. Berliner Mitglieder des Studierendenverbandes der Linkspartei, SDS, berichteten über Erfahrungen in der Solidaritätsarbeit. Solche Hilfe von außen sei ausdrücklich willkommen und könne Geschäftsleitungen »richtig nerven«, so Carla Dietrich.

Eine »unheilige Allianz zwischen Arbeitgebern und Politik« bei der Prekarisierung der Arbeit kritisierte die Bundestagsabgeordnete Jutta Krellmann (LINKE): »Die spielen sich gegenseitig die Bälle zu.« Sie stellte Vorstöße ihrer Fraktion vor, um das Lohndumping im Einzelhandel auch im Bundestag zu thematisieren. »Die Streikbewegung findet noch zu sehr unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt«, bemängelte Linksparteichef Bernd Riexinger, der als ver.di-Sekretär jahrelang Beschäftigte im Handel betreut und Streiks organisiert hatte. Der Generalangriff der Arbeitgeber müsse mit einer Ausweitung des Arbeitskampfes gerade auch im Weihnachtsgeschäft beantwortet werden. Dabei komme es auch auf die aktive Solidarität aus anderen Branchen und Rückendeckung durch lokale Untergliederungen der Linkspartei an, so Riexinger.

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