Stille Nacht
Als 1914 deutsche mit britischen, französischen und belgischen Soldaten fraternisieren
Das Museum zum Ersten Weltkrieg »In Flanders Fields« in Ypern ist 2012 nicht nur räumlich erweitert worden. Es setzt auch manchen Schwerpunkt neu, ohne die persönlichen Sichten - ein Merkmal der Ausstellung - auf das Massensterben auf den Mohnfeldern Flanderns einzuschränken. Eine Besonderheit des Weltkriegs, den Lenin gegenüber dem Dichter Valeriu Marcu einmal auf die Formel bringt: »Ein Sklavenhalter, Deutschland, kämpft mit einem anderen Sklavenhalter, England, um eine gerechtere Verteilung der Sklaven«, ist an einigen Abschnitten der Westfront, besonders bei Ypern, die spontane Weihnachtswaffenruhe 1914.
»Kamerad, ich wollte dich nicht töten. … Jetzt sehe ich erst, daß du ein Mensch bist wie ich. Ich habe gedacht an deine Handgranaten, an dein Bajonett und deine Waffen; - jetzt sehe ich deine Frau und dein Gesicht und das Gemeinsame. Vergib mir, Kamerad! Wir sehen es immer zu spät. Warum sagt man uns nicht immer wieder, daß ihr ebenso arme Hunde seid wie wir, daß eure Mütter sich ebenso ängstigen wie unsere…«»
Erich Maria Remarque, «Im Westen nichts Neues»
«Waffenlos traten die Besatzungen aus dem Graben und beschenkten sich gegenseitig, bis das Eingreifen höherer Stäbe dem Weihnachtsfrieden ein Ende machte. Unseren Kompanien war daher das Fraternisieren, aber auch unnötiges Schießen untersagt. Nun versuchte der Tommy neuerdings sein Glück mit uns. Was sich zwischen beiden Fronten ereignete, war ein Stück reiner Menschlichkeit.»
Geschichte des Regiments List, bayer. R.I.R. 16, 26. 12. 1914
Was Widerstand von unten bewirken kann
Historiker Dominiek Dendooven (42) sagt beim Gespräch in der altflämischen Tuchhalle, die das Museum beherbergt: »Der Erste Weltkrieg ist viel schwerer zu beurteilen als der Zweite. Das betrifft auch die Schuldfrage. Sein Ausbruch war ein katastrophales Versagen des Internationalismus. An dessen Stelle trat eine verhängnisvolle Betonung patriotischer Beschwörung, von ›Union sacrée‹ in Frankreich und ›Burgfrieden‹ in Deutschland. Umso höher ist die von manchen Historikern unterschätzte spontane weihnachtliche Waffenruhe von 1914 in einigen Frontbereichen zu bewerten. Sie zeigt, was Widerstand von unten bewirken kann.«
Was geschah zu dieser Kriegsweihnacht an der Front bei Ypern? In einigen Bereichen südlich der Stadt und bis nach Frankreich findet von oben nicht autorisierte, aber auch nicht durchweg unterbundene Verbrüderung unterschiedlicher Intensität, Qualität und Dauer statt. Vieles ist heute nicht mehr exakt aufzuklären, einige Fraternisierungsbeispiele sind verklärt und aufgebauscht worden. Doch belegt sind wiederholte, Heiligabend beginnende, mitunter bis Januar 1915 dauernde Feuerpausen. Da werden im Niemandsland zwischen den manchmal weniger als 100 Meter voneinander getrennten Grabenlinien Verwundete geborgen und Gefallene begraben, Gespräche geführt, Geschenke getauscht, gemeinsam Lieder gesungen und sogar Fußballspiele ausgetragen.
Die Auslöser? Viele Soldaten beider Seiten, im Sommer euphorisch und in Sorge losmarschiert, »zu spät zum Siegen zu kommen«, haben im Feld ihren Optimismus gegen Ernüchterung getauscht. Der rasche Übergang vom Bewegungs- in einen Stellungskrieg, bei dem sich beide Seiten tiefer und tiefer in ein Gleichgewicht tödlicher Erschöpfung graben, bereitet den Boden. Hinzukommen in Flandern extrem schlechtes Wetter und zu diesem Zeitpunkt, da die Materialschlachten der Folgejahre mit gänzlich neuen Waffen, von Flammenwerfer bis Giftgas, noch ausstehen und Dörfer und Städte noch nicht dem Erdboden gleichgemacht sind, ein übergreifendes Bewusstsein von Weihnachten als Fest der Nächstenliebe. Schließlich der Wunsch, die Geschenke aus der Heimat in Form von warmer Kleidung, Essen und Alkohol, Tabak, Zigaretten und Schokolade ohne Angst zu genießen. Bemerkenswert am »Christmas Truce«, an dem nach einigen Quellen bis zu 100 000, realistischer wohl mehrere Tausend Soldaten und einzelne Vorgesetzte teilgenommen haben sollen, sind Zeugenaussagen und die wenigen bekannten Reaktionen aus Generalstäben und Politik. Beispiele:
»Armer kleiner Gott der Liebe«
KURT ZEHMISCH, Leutnant, Lehrer aus Weischlitz (Vogtland): »Heiliger Abend. Wir sangen Stille Nacht … Meinen Leuten habe ich befohlen, dass heute und an den Weihnachtstagen kein Schuss von unserer Seite abgegeben wird, wenn es zu umgehen ist. Die Feier hat manchen zu Tränen gerührt. Endlich kam ein Engländer aus dem Graben heraus und hielt beide Hände hoch … Der Engländer kam auf unsere Leute zu und wünschte ihnen frohe Weihnachten, und er reichte unseren Leuten die Hand, die den Gruß herzlich erwiderten. Jetzt stellten wir auf unseren kilometerlangen Schützengräben Kerzen auf. Es war die reinste Illumination … Einmal machte unser Unteroffizier Holland drei photographische Aufnahmen, auf denen wir uns mit den Engländern gruppiert hatten. Meine Leute gruben indessen die gefallenen Engländer und Deutschen ein, die schon ganz eingetrocknet waren.«
GREG NOTTLE, britischer Unteroffizier: »Kurz nach Mitternacht geschah etwas Ungewöhnliches. Wir hörten die Gerries ›Stille Nacht‹ singen - und stimmten alle ein. … Als es hell wurde, begannen die Deutschen zu rufen ›Happy Christmas, Tommy‹, und wir riefen zurück ›Happy Christmas, Gerry‹ ... Zögernd liefen wir aufeinander zu. Wir bekamen Schnaps von ihnen, und sie probierten unseren Rum. Wir teilten und tauschten unser Essen und sahen Fotos von unseren Frauen, Freundinnen und Familien an … Als es dunkel wurde, kehrten wir zu unseren Linien zurück. Es war ein bemerkenswerter Tag, ich werde ihn nie vergessen.«
MAURICE LAURENTIN, französischer Leutnant: »Die Deutschen gegenüber singen ein Weihnachtslied, das von Gewehrschüssen unterbrochen wird. Armer kleiner Gott der Liebe, in dieser Nacht geboren, wie kannst du nur die Menschen lieben?«
JOHANNES NIEMANN, Oberstleutnant, Sächsisches I.R. 133: »Dann brachte ein Schotte einen Fußball angeschleppt. Es entwickelte sich ein regelrechtes Fußballspiel mit hingelegten Mützen als Tor. Auf dem gefrorenen Acker war das nun so eine Sache … Das Spiel endete 3:2 für Fritz.«
Die Waffenruhe hat auf beiden Seiten kein größeres disziplinarisches Nachspiel. Die Oberkommandos wirken überrumpelt. In der deutschen Presse wird nichts erwähnt. Das Medienecho in London und Paris ist offener. Es spielt aber die Verbrüderungsfälle zu Kleinstvorgängen an unbedeutenden Abschnitten herunter oder stellt britische Soldaten mit Sympathien für den »Christmas Truce« in die vaterlandslose Ecke. Empörung und Sorge machen sich auf Kommandoebene breit oder wie Historiker Dendooven sagt: »Die Weihnachtsruhe 1914 darf man als einen Wendepunkt im Krieg bezeichnen, denn sie zeigte den Befehlshabern, dass sie etwas tun müssen, um die Truppen ständig zu beschäftigen - also ohne Unterlass zu kämpfen.«
Sir John French, Chef der British Expeditionary Force, einer Berufsarmee, die zu Beginn von Britanniens Kriegseintritt in Flandern kämpft, erlässt für die Zukunft scharfe Disziplinierungsbefehle. Frankreichs Premier Georges Clemenceau fordert bei seiner Berufung 1917, »Pazifisten und Defätisten, auch ganz hochgestellte, vor das Militärgericht (zu) stellen«. Winston Churchill, 1914 Erster Lord der Admiralität, erweist sich mit seiner Frage schon da als Stratege: »Was würde wohl geschehen, so frage ich mich, wenn alle Armeen plötzlich gleichzeitig in Streik träten und sagten, man müsse eine andere Methode finden, den Streit beizulegen!«
Oberkommandos drohen mit Kriegsgerichtsverfahren
Als es Weihnachten 1915 erneut Versuche zu einer Atempause für die Truppen gibt, drohen die Oberkommandos Kriegsgerichtsverfahren an. Auch das Niemandsland ist nun immer Kampfzone. Die blutigste Schlacht im Ypern-Bogen findet 1917 bei Passendale statt. Harry Patch, der in ihr verwundet wird, stirbt im Juli 2009 als letzter britischer Grabenkämpfer mit 111. Kurz vorher nennt er den Ersten Weltkrieg »nichts weiter als legalisierten Massenmord«. Der namhafte amerikanische Neurochirurg Harvey Cushing, der Passendale im Lazarett am OP-Tisch erlebt, bestätigt Patch: »Die Männer lachten nicht mehr, sie waren verstummt. Einem war der komplette Kiefer zerfetzt, Männern staken Eisenbrocken in den Lungen und Gedärmen, ihre Arme und Beine waren abgerissen, sie hatten keine Nasen, keine Gesichter mehr. Einer ertrug es nicht mehr und schoss sich mit dem Revolver in den Mund; er machte alles nur schlimmer. Man brachte ihn fluchend im Krankenwagen weg. Er muss gesund gepflegt werden, und wenn es ihm besser geht, wird er an die Wand gestellt und erschossen.«
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