Die Interessen der Industriellen

Zu den Hintergründen des Hitlerputsches vom 9. November 1923

  • Erwin Könnemann
  • Lesedauer: 4 Min.

Für den Abend des 8. November hatte der starke Mann Bayerns, Generalstaatskommissar Gustav Ritter von Kahr, eine programmatische Rede vor den Notabeln Münchens im honorigen Bürgersaal angekündigt. Es sollte nicht dazu kommen. Wenige Minuten nach Beginn seiner Ansprache stürmte Hitler im langen schwarzen Gehrock, das Eiserne Kreuz Erster Klasse an der Brust, an der Spitze eines schwer bewaffneten Trupps Hakenkreuzler in den Saal, feuerte einen Schuss unter die Decke und verkündete den Ausbruch der »nationalen Revolution«. In barschen Worten bat er Kahr, den Reichswehrgeneral Lossow und den Polizeioberst Seißer unter Bewaffnung ins Nebenzimmer, wo er jenen eröffnete, wie er sich die personelle Zusammensetzung der »nationalen Diktatur« vorstellte. Für sich reklamierte er die politische Führerschaft, während General Ludendorff, der angesehene Feldherr des (Ersten) Weltkriegs, den »Marsch auf Berlin« befehligen sollte. Lossow war das Amt des Reichswehrministers, Seißer das des Reichspolizeiministers und Kahr die Funktion eines Reichsverwesers für Bayern zugedacht. Eine Dreiviertelstunde lang weigerte sich das Triumvirat, auf Hitlers Ansinnen einzugehen; erst die Ankunft Ludendorffs, rettete Hitler.

Was ließ Hitler glauben, dass sein Überraschungscoup gelingen würde?

Seit Ende September 1923 steuerte Kahr einen spektakulären Kurs, der auf einen Bruch mit Berlin und die Wiederherstellung der Wittelsbacher Monarchie mit dem Kronprinzen Rupprecht an der Spitze hinauszulaufen schien. Im Laufe des Oktobers erhielt die weißblaue Losung »Los von Berlin« unter dem Einfluss der schwarz-weiß­rot orientierten Vaterländischen Verbände den neuen Inhalt »Auf nach Berlin«. Der mächtigste und am besten organisierte Wehrverband war der unter Hitlers Führung vereinigte »Kampfbund«. Für die Förderung der rechtsradikalen Kräfte erhielt Ludendorff von dem Großindustriellen Fritz Thyssen am 23. Oktober 100 000 Goldmark, eine für die damalige Zeit unerhört hohe Summe. Einen Monat zuvor hatte der Magnat Hugo Stinnes bereits den US-amerikanischen Botschafter in Deutschland, Charles Houghton, über die Pläne, eine Diktatur einzuführen, unterrichtet: Der deutsche Arbeiter müsse gezwungen werden, »länger und schwerer zu arbeiten«. Am 24. Oktober kündigte Lossow den versammelten Wehrbundführern und höheren bayerischen Offizieren den »Marsch auf Berlin und die Befreiung Deutschlands vom Marxismus« an. Eine Woche später sprach er von der Notwendigkeit einer »Reichsdiktatur« unter Lossow, Seißer, Hitler. Letzterer war also bereits in die höchste Führungsebene einbezogen.

Das änderte sich jedoch, als Seißer am 2. November nach Berlin fuhr, um die Lage bei den norddeutschen Verschwörern zu sondieren. Die entscheidende Unterredung fand mit General Seeckt, dem Chef der Reichswehr, statt, der zu verstehen gab, er habe Verständnis für Kahrs Bemühungen, die Weimarer Republik zu beseitigen, jedoch müsse der legale Weg eingehalten werden - um Abwehraktionen der Arbeiter wie beim Kapp-Putsch zu vermeiden. Unmittelbar nach dem Gespräch schrieb Seeckt einen längeren Brief an Kahr, den dieser am 5. November erhielt. Hierin forderte er eine »Einheitsfront aller national Gesinnten«; die Verfassungsänderung dürfe jedoch nicht von »unverantwortlicher und unberufener Seite und mit Gewalt« erfolgen. Das richtete sich eindeutig gegen eine unkalkulierbare »völkische Revolution« sowie gegen Hitler und Ludendorff. Das bayerische Triumvirat Kahr, Lossow und Seißer ordnete daraufhin die eigenen Pläne den Seecktschen unter, denen eine nationale Dimension zukam. Deren Ziele hatte Stinnes bereits im September dem US-amerikanischen Botschafter offenbart: Im Krisenfall sollte Reichspräsident Ebert General Seeckt die Gewalt übertragen. Die Kommunisten würden »zerschmettert« und der Sozialismus für immer beerdigt» werden. «Alle Verordnungen, die die Produktion hindern», würden widerrufen werden. Dann würden ausländische Anleihen ins Land strömen.

Neue Details vermittelt der vertrauliche Bericht eines Augen- und Ohrenzeugen an Reichswehrminister Otto Gessler in Berlin, den dieser am Abend des 8. November, also unmittelbar vor Kahrs geplanter Rede in München, erhielt: Die militärische Führung des gewaltsamen Staatsstreichs sollte Lossow und die politische Verantwortung Kahr übernehmen. Hitler geriet nun in eine Zwangslage, erwarteten doch seine Anhänger von ihm die «nationale Tat». Als Hasardeur setzte er alles auf eine Karte. Der Propagandamarsch am Vormittag des 9. November 1923 durch München scheiterte, 13 Nazis und drei Polizisten starben. Hitler schien für immer ein politische toter Mann zu sein. Ironie der Geschichte: Der Ende Februar 1924 eröffnete Prozess rettete Hitler. Er erhielt die Gelegenheit, Propagandareden zu halten, die Niederlage in einen Erfolg umzumünzen und so die «Führer»-Legende zu begründen. Aus dem Putsch zog er zwei Lehren: sich nie gegen die Reichswehrführung und die Herren an Rhein und Ruhr zu stellen und die Regierungsgewalt auf legalem Wege zu erlangen. Ein Rezept, das ihm zehn Jahre später, Januar 1933, an die Macht brachte.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Mehr aus: