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The proof of the pudding ...
Oder: Was heißt und zu welchem Ende betreiben wir Kapitalismuskritik? Aus der Abschiedsvorlesung von Elmar Altvater am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin
Wem britischer Empirismus nicht gänzlich fremd ist und wer noch nicht vergessen hat, dass wir im Jahre 2005 das »Schillerjahr« begangen haben, wird wissen, dass der Titel (»The proof of the pudding «) die erste Hälfte eines englischen Sprichwortes ist, dessen zweite Hälfte später in diesem Vortrag eine Rolle spielen wird, und dass der Untertitel dieser Abschiedsvorlesung den der Antrittsvorlesung von Friedrich Schiller paraphrasiert.
Er hat sie am 26. Mai des Revolutionsjahres 1789 an der Universität Jena gehalten. Schiller versuchte eine Antwort auf die selbst gestellte Frage: »Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?« Kapitalismuskritik lag dem idealistischen Geist selbstverständlich fern, auch weil es den Kapitalismus erst in unzusammenhängenden, sozusagen prototypischen Formen gab. (...)
Marx hatte, als er die »Kritik der politischen Ökonomie« 1857 schrieb, schon Erfahrungen mit dem damals am höchsten entwickelten Kapitalismus in England gemacht. Friedrich Engels hatte die »Geschichte der arbeitenden Klasse in England« verfasst und darin die elenden Arbeits- und Lebensbedingungen des Proletariats beschrieben. Marx war auch mit der preußischen Obrigkeit in Konflikt geraten und musste das Schicksal des Emigranten erleiden. Auch das »Kommunistische Manifest« war schon fast 10 Jahre vor der »Kritik «, aus der das Zitat stammt, erschienen. (...)
Das Mahlwerk der Satansmühle
Man kann die Gewalt der Satansmühle erahnen, wenn man die Romane von Charles Dickens über das Elend der Arbeiterklasse (z.B. Oliver Twist) oder von Emile Zola über die frühen Finanzkrisen (»Geld«) liest oder die Berichte der Fabrikinspektoren zur Kenntnis nimmt, die Marx im »Kapital« ausgiebig zur Illustration seiner Kritik der Politischen Ökonomie zitiert. Man versteht auch die Bitternis in dem schon zitierten Verweis am Ende des 13. Kapitels des »Kapital« auf die Zerstörung der »Springquellen allen Reichtums, der Natur und der lebendigen Arbeit«. (...)
Das Mahlwerk der Satansmühle wird inzwischen von fossiler und nuklearer Energie angetrieben. Doch gibt es soziale und politische Gegenbewegungen gegen die Zerstörung von Arbeitskraft und Natur. (...) Das ist vergleichbar dem Ziehen der Notbremse, von dem Walter Benjamin sagt, das in manchen historischen Situationen zum Fortschritt eher beiträgt als mit hohem Tempo ins Ungewisse zu rasen. Dem Staat werden Regeln zum Schutz der Arbeitskraft »aufgeherrscht«, wie Marx im Kapitel über den Kampf um den Normalarbeitstag im »Kapital« schreibt. Der moderne Wohlfahrtsstaat wird von der in Parteien und Gewerkschaften organisierten Arbeiterklasse erkämpft. Mit ihm kommt die später so genannte »Ambivalenz des Reformismus« auf: Die Errungenschaften der Auseinandersetzungen um sozialstaatliche Regelungen müssen innerhalb des staatlichen Institutionensystems gegen jene Kräfte verteidigt werden, die das Rad der Geschichte immer wieder zurückdrehen wollen, die mit der Befolgung von »Sachzwängen« des Marktes das Drehbuch des Kapitals zu realisieren gedenken.
Der moderne Wohlfahrtsstaat ist daher ein mächtiges Vehikel der Integration sozialer Bewegungen und als er sich vor allem in der Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg zum modernen Interventionsstaat fortentwickelt, können die Krisen der kapitalistischen Ökonomie mit den Medien von Geld, Macht und Recht bearbeitet werden. Doch der Sozial- und Interventionsstaat war zugleich Nationalstaat. Wie wir aus den regulationstheoretisch beeinflussten Debatten über den »Fordismus« wissen, hat dieser einige Jahrzehnte im 20. Jahrhundert, in den Industrieländern bis in die 1970er Jahre, verhältnismäßig gut, wenn auch nicht krisenfrei und ohne Konflikte funktioniert. Seitdem freilich befindet sich die Welt in einem tief greifenden Transformationsprozess. (...)
»Its the globalization, stupid « Sie unterminiert seit etwa Mitte der 1970er Jahre die sozialstaatlichen Regulierungen von Nationalstaaten. Die Polanyische politische Gegenbewegung gegen die Satansmühle entbetteter Märkte ist blockiert oder rackert sich fruchtlos ab. Auf den Arbeitsmärkten nimmt die Arbeitslosigkeit zu - überall in der Welt. Das Normalarbeitsverhältnis der formellen Arbeit erodiert und die informelle Ökonomie expandiert. Es wächst die Zahl der prekär Beschäftigten.
Damit sind die Voraussetzungen für den von Ralf Dahrendorf so genannten »institutionalisierten Klassenkompromiss« geschwunden, und die Reste werden noch politisch liquidiert; in Deutschland mit den Hartz-Reformen. Auch die Finanzmärkte sind wie ein Mahlstrom, in dem ganze Gesellschaften versinken können. Die Finanzkrisen des vergangenen Jahrzehnts in Asien, Russland oder Lateinamerika haben die jeweilige Bevölkerung zwischen 20 und 60 Prozent des Sozialprodukts gekostet. (...)
Worauf basiert ökonomische Macht?
Worauf basiert die ökonomische Macht in einer kapitalistisch geprägten Weltordnung? In erster Linie auf Eigentumsrechten an Produktionsmitteln, auf Geld- und Produktivvermögen, auf Grundbesitz, also auf Verfügung über Land und Territorien, und mehr denn je zuvor auf intellektuellem Eigentum - alles in nationalstaatlichen und in internationalen Verträgen (von WIPO bis WTO, GATS und BITs, den tausenden von bilateralen Investitionsabkommen) geregelt. Eigentum ist keine statische, vor allem juristische Kategorie. Es ist wertlos ohne Aneignung, und daher kommt alles darauf an, den Prozess der Aneignung eines Überschusses, eines Mehrwerts in Produktion und Akkumulation sicher zu stellen. Erst dann wird mit den ökonomischen Mechanismen des Marktes der Überschuss in der Distributionssphäre umverteilt. Daher wird von den mächtigen Nationen auf dem Weltmarkt schon immer das Lied des Freihandels gesungen, vor allem nachdem sie die Leiter »weggekickt« haben, auf der ihnen andere Nationen, den Lehren der Modernisierungstheorie gehorchend, nachfolgen wollen - wie der britisch-koreanische Ökonom Ha-Joon Chan bemerkt, indem er den deutschen Kritiker der klassischen Freihandelslehre Friedrich List zitiert. Jede WTO-Handelsrunde ist ein Lehrstück über Freihandel als Ideologie und als knallharte Interessenpolitik, mit der wie jüngst in Hong Kong die reichen Länder und Wirtschaftsblöcke die armen Länder über den Tisch ziehen. Daher ist es kein Wunder, dass die von den internationalen Institutionen kalkulierten Handelsgewinne zum überwältigenden Teil bei den reichen Nationen anfallen und für die ärmeren Teilnehmer am Welthandel nur Krumen bleiben.
Zur Sicherung der Aneignung sind die Mächtigen aber auch bereit, politischen Druck und militärische Gewalt zu mobilisieren, also nicht nur auf den »äußren Zwang der Konkurrenz« des Marktes, den »stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse« zu setzen. Man könnte über die Gewalt im Kapitalismus eine Geschichte erzählen, die viel zu lang für eine Abschiedsvorlesung ist und die jede Heiterkeit aus diesem Raum vertreiben würde. Wir sind Zeitzeugen von Gewalt, von Terror, Folter und Kriegen. Das kapitalistische Weltsystem scheint in einem Danteschen Chaos zu versinken. Dies ist die analytische Prognose von Weltsystemtheoretikern wie Immanuel Wallerstein, und sie ist - leider, wie ich normativ hinzufügen möchte - nicht abwegig.
Das Öl nimmt ab - der Öl-Bedarf aber steigt
Ein wichtiger Grund ist der Sachverhalt, dass die glückliche »historische Fundsache«, die Kongruenz von Rationalität, Technik, Markt, kapitalistischen Formen und fossilen Energieträgern verloren geht. Denn das Öl und andere fossile Brennstoffe gehen zur Neige. Vieles spricht dafür, dass der Höhepunkt der weltweiten Ölförderung (Peakoil) in wenigen Jahren überschritten sein wird. Dann gibt es zwar immer noch Öl; die statische Reichweite (geschätzte Reserven dividiert durch den gegenwärtigen Jahresverbrauch) beträgt etwa 40 Jahre. Doch die jährlich neu gefundenen Lager sind wesentlich kleiner als die Jahresförderung, so dass die Bestände abnehmen - und dies bei steigender Nachfrage nach Öl, weil alle neu industrialisierenden Länder, z.B. Indien und China, auf den Treibstoff von Wachstum, Produktivität, die Voraussetzung von westlichem Konsummuster und Mobilität angewiesen sind. Die bereits hoch entwickelten Länder in Nordamerika und Westeuropa sind ihrerseits kaum bereit und in der Lage, ihre Nachfrage zu drosseln.
Die USA haben den Scheitel ihrer Ölförderung (ihr »Peakoil«) bereits Anfang der 1970er Jahre überschritten. Sie können den inländischen Verbrauch mit inländischer Förderung nicht mehr decken. Die entstehenden Diskrepanzen zwischen Angebot und Nachfrage können nur durch Importe überwunden werden. Schon im Mai 2001 (also vor dem 11. September) hat der Vizepräsident der USA Cheney (Ex-Chef von Halliburton) einen Bericht über die Ölsicherheit der USA vorgelegt. Darin wird ausgeführt, dass die heimische Produktion bis 2020 von 8,5 auf 7 Millionen Barrels pro Tag zurückgehen, dass der Ölverbrauch aber von 19,5 auf 25,5 Millionen Millionen Barrels pro Tag zu ansteigen wird und daher die wachsende Lücke durch Importe gedeckt werden müsse. Die Importe sollen um 68 Prozent von 11 auf 18,5 Millionen Barrels pro Tag zu wachsen. Die Sicherung der Energieversorgung erlangt also höchste Priorität in der US-Außenpolitik. Teilweise erklärt dies deren geostrategische Aggressivität beim politischmilitärischen Zugriff auf Ölterritorien oder die Öl- und Gaslogistik. Viele der an die 570 Militärstützpunkte der USA im Ausland befinden sich in den vielen Pipelineistans des Globus. Für die USA war es auch ein entscheidendes Privileg, dass die steigenden Ölimporte in US-Dollar bezahlt werden können. Kein anderes Öl-Importland hat einen ähnlichen Vorteil in Anspruch nehmen können.
Einen bitteren Vorgeschmack auf die möglichen Konflikte haben wir schon heute: das sind beispielsweise die Konflikte um die Gaspipeline auf direktem Wege von Russland durch die Ostsee nach Deutschland, und der Streit zwischen Russland und der Ukraine um Preise und Transitrechte von Erdgas. Darüber hinaus spitzen sich Auseinandersetzungen um die Preisbildung und um die Währung zu, in der die Ölrechnungen ausgestellt werden. Ein neues »great game« um den Zugang zu den Ölressourcen und um deren Verteilung wie am Ausgang des 19. Jahrhunderts ist eröffnet. Diesmal aber ist das »Spielfeld« nicht auf den Kaukasus beschränkt. Es hat globale Ausmaße von Lateinamerika, wo Hugo Chavez versucht, die lateinamerikanische Wirtschaftsintegration mit kontinentalen Energienetzwerken zu forcieren, nachdem die ALCA zum Scheitern gebracht worden ist, bis Ostasien, wo China eine Pipeline in Richtung Zentralasien baut. Heftige Auseinandersetzungen sind also zu erwarten. Das »great game« ist ein Nullsummenspiel, und das haben die USA wohl begriffen. Daher hat ihr Unilateralismus eine höchst rationale Basis, ist also nicht die Marotte der besonders reaktionären Bush-Administration.
Die erwähnte Kongruenz von Kapitalismus und Fossilismus erweist sich nun als eine Falle. Fossile Energien haben ein natürliches Maß. Darauf hat der Club of Rome schon zu Beginn der 1970er Jahre zu Recht verwiesen, auch wenn er sich über das quantitative Ausmaß getäuscht hatte. Denn ihre Verfügbarkeit und die Tragfähigkeit der natürlichen Sphären für die Verbrennungsprodukte, vor allem das Kohlendioxid, sind begrenzt. Doch das gesellschaftliche System des Kapitalismus ist autoreferentiell und daher maßlos, ein »Automat«, der, wie Karl Marx schreibt, die »eingeborne geheime Qualität (besitzt), in geometrischer Progression Mehrwert zu erzeugen«. Diese Maßlosigkeit ist seit Aristoteles Thema und hat ihn veranlasst, zwischen maßvoller (und natürlicher) Hauswirtschaft und maßloser (und daher unnatürlicher) Geldwirtschaft zu unterscheiden.
Die universalgeschichtliche Diagnose der Gegenwart als Geschichte der »longue durée« (Fernand Braudel) des globalen Kapitalismus seit der industriellen Revolution fördert eine politisch außerordentlich relevante Paradoxie zu Tage. Das Wachstum in der Zeit und die Expansion im Raum der kapitalistischen Produktionsweise geraten an Grenzen und gleichzeitig scheint die Überwindung dieser Grenzen immer dringlicher. Sie ist sogar in den normativen Katalog der »good governance« aufgenommen. Regierungshandeln wird daran bewertet, welche Wachstumsraten es hervorzaubern kann. Diese Paradoxie kann nicht mehr mit immanenter oder mit Ideologiekritik aufgelöst werden. Dazu bedarf es der materialistischen Kritik, die mit den Denkformen die gesellschaftlichen Verhältnisse kritisiert, aus denen sie erwachsen. (...)
Kritik, weil wir die Welt verändern müssen
Damit bin ich endlich beim Titel dieser Vorlesung angelangt: beim Pudding. Was ist »the proof of the pudding«? Die Antwort lautet: »it is in the eating«. Man kann nur feststellen, ob der Pudding schmeckt, nachdem man ihn gegessen hat. So einfach ist das. Ich habe dieses englische Sprichwort (das man auch in Verzeichnissen britischer Sprichwörter findet) von Friedrich Engels. Er zitiert in seiner Schrift über »historischen Materialismus« aus dem »Faust« von Goethe: »"Im Anfang war die Tat."« Und fügt hinzu: » menschliche Tat hatte die Schwierigkeit schon gelöst, lange ehe menschliche Klugtuerei sie erfand. The proof of the pudding is in the eating.« Aber um beim Essen Qualitätskriterien anwenden zu können, müssen die Geschmacksnerven, die Sinneszellen, der Geist geschärft werden und viele Erfahrungen gesammelt und verglichen werden, muss man ein »philosophischer Kopf« und kulinarischer Genießer sein. Dann findet man auch eine einfach klingende Antwort auf die Frage im Untertitel dieser Vorlesung: Zu welchem Ende betreiben wir Kapitalismuskritik? Wir betreiben sie in praktischer Absicht, weil wir die Welt verändern müssen, wenn wir wollen, dass sie bleibt. Die Geschichte ist nicht am Ende. Es gibt Alternativen. Es ist notwendig, sie zu erdenken, zu entwickeln und sich für die Realisierung in gesellschaftlicher, d.h. heute in global vernetzter Praxis einzusetzen. Theoretisch im Studium, und praktisch in der Politik.
Die praktische Dimension der Kapitalismuskritik wäre nun genauer zu erläutern und zu studieren. Die Abschiedsvorlesung könnte also das Präludium einer Antrittsvorlesung Schillerschen Formats sein. Das mag Sie erstaunen. Doch hören Sie, was Michel de Montaigne (1533-1592) im dritten Buch seiner »Essais« im 11. Essai »über die Hinkenden« zum Staunen zu sagen hat: » das Staunen ist die Grundlage aller Philosophie, das Forschen ihr Fortschritt, die Unwissenheit ihr Ende. Ja, in der Tat, es gibt eine Unwissenheit, die so fundiert und so weitgespannt ist, dass sie an Würde und Wagemut dem Wissen in keiner Weise nachsteht - eine Unwissenheit, die sich zu erwerben nicht weniger Erkenntnisfähigkeit verlangt als der Erwerb von Wissen.« Wir strengen uns bei der Analyse der kapitalistischen Dynamik mit der uns verfügbaren intellektuellen Kraft an, unser Wissen wächst und zugleich unsere Unwissenheit. Das hat Nikolaus von Kues mit seinem paradoxen Begriff der »gelehrten Unwissenheit« (docta ignorantia) auf den Punkt gebracht. Enttäuschend also, dass Kapitalismuskritik nicht das sichere Wissen ist, das nur in Praxis umgesetzt werden müsste. Das gute und Hoffnungsfrohe aber ist, dass das Wissen um das gelehrte Nichtwissen, also nicht die leider viel weiter verbreitete, geradezu epidemische Dummheit, Freiheitsgrade öffnet für die politische Praxis und dann, in kollektiver Forschung rückwirkend, neue theoretische Einsichten.
Was ich sagen wollte: Eine Abschiedsvorlesung ist keine Abschlussvorlesung, sie ist Teil eines kollektiven Prozesses des theoretischen Suchens und der politisch-praktischen Veränderung. Fortset...
Er hat sie am 26. Mai des Revolutionsjahres 1789 an der Universität Jena gehalten. Schiller versuchte eine Antwort auf die selbst gestellte Frage: »Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?« Kapitalismuskritik lag dem idealistischen Geist selbstverständlich fern, auch weil es den Kapitalismus erst in unzusammenhängenden, sozusagen prototypischen Formen gab. (...)
Marx hatte, als er die »Kritik der politischen Ökonomie« 1857 schrieb, schon Erfahrungen mit dem damals am höchsten entwickelten Kapitalismus in England gemacht. Friedrich Engels hatte die »Geschichte der arbeitenden Klasse in England« verfasst und darin die elenden Arbeits- und Lebensbedingungen des Proletariats beschrieben. Marx war auch mit der preußischen Obrigkeit in Konflikt geraten und musste das Schicksal des Emigranten erleiden. Auch das »Kommunistische Manifest« war schon fast 10 Jahre vor der »Kritik «, aus der das Zitat stammt, erschienen. (...)
Das Mahlwerk der Satansmühle
Man kann die Gewalt der Satansmühle erahnen, wenn man die Romane von Charles Dickens über das Elend der Arbeiterklasse (z.B. Oliver Twist) oder von Emile Zola über die frühen Finanzkrisen (»Geld«) liest oder die Berichte der Fabrikinspektoren zur Kenntnis nimmt, die Marx im »Kapital« ausgiebig zur Illustration seiner Kritik der Politischen Ökonomie zitiert. Man versteht auch die Bitternis in dem schon zitierten Verweis am Ende des 13. Kapitels des »Kapital« auf die Zerstörung der »Springquellen allen Reichtums, der Natur und der lebendigen Arbeit«. (...)
Das Mahlwerk der Satansmühle wird inzwischen von fossiler und nuklearer Energie angetrieben. Doch gibt es soziale und politische Gegenbewegungen gegen die Zerstörung von Arbeitskraft und Natur. (...) Das ist vergleichbar dem Ziehen der Notbremse, von dem Walter Benjamin sagt, das in manchen historischen Situationen zum Fortschritt eher beiträgt als mit hohem Tempo ins Ungewisse zu rasen. Dem Staat werden Regeln zum Schutz der Arbeitskraft »aufgeherrscht«, wie Marx im Kapitel über den Kampf um den Normalarbeitstag im »Kapital« schreibt. Der moderne Wohlfahrtsstaat wird von der in Parteien und Gewerkschaften organisierten Arbeiterklasse erkämpft. Mit ihm kommt die später so genannte »Ambivalenz des Reformismus« auf: Die Errungenschaften der Auseinandersetzungen um sozialstaatliche Regelungen müssen innerhalb des staatlichen Institutionensystems gegen jene Kräfte verteidigt werden, die das Rad der Geschichte immer wieder zurückdrehen wollen, die mit der Befolgung von »Sachzwängen« des Marktes das Drehbuch des Kapitals zu realisieren gedenken.
Der moderne Wohlfahrtsstaat ist daher ein mächtiges Vehikel der Integration sozialer Bewegungen und als er sich vor allem in der Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg zum modernen Interventionsstaat fortentwickelt, können die Krisen der kapitalistischen Ökonomie mit den Medien von Geld, Macht und Recht bearbeitet werden. Doch der Sozial- und Interventionsstaat war zugleich Nationalstaat. Wie wir aus den regulationstheoretisch beeinflussten Debatten über den »Fordismus« wissen, hat dieser einige Jahrzehnte im 20. Jahrhundert, in den Industrieländern bis in die 1970er Jahre, verhältnismäßig gut, wenn auch nicht krisenfrei und ohne Konflikte funktioniert. Seitdem freilich befindet sich die Welt in einem tief greifenden Transformationsprozess. (...)
»Its the globalization, stupid « Sie unterminiert seit etwa Mitte der 1970er Jahre die sozialstaatlichen Regulierungen von Nationalstaaten. Die Polanyische politische Gegenbewegung gegen die Satansmühle entbetteter Märkte ist blockiert oder rackert sich fruchtlos ab. Auf den Arbeitsmärkten nimmt die Arbeitslosigkeit zu - überall in der Welt. Das Normalarbeitsverhältnis der formellen Arbeit erodiert und die informelle Ökonomie expandiert. Es wächst die Zahl der prekär Beschäftigten.
Damit sind die Voraussetzungen für den von Ralf Dahrendorf so genannten »institutionalisierten Klassenkompromiss« geschwunden, und die Reste werden noch politisch liquidiert; in Deutschland mit den Hartz-Reformen. Auch die Finanzmärkte sind wie ein Mahlstrom, in dem ganze Gesellschaften versinken können. Die Finanzkrisen des vergangenen Jahrzehnts in Asien, Russland oder Lateinamerika haben die jeweilige Bevölkerung zwischen 20 und 60 Prozent des Sozialprodukts gekostet. (...)
Worauf basiert ökonomische Macht?
Worauf basiert die ökonomische Macht in einer kapitalistisch geprägten Weltordnung? In erster Linie auf Eigentumsrechten an Produktionsmitteln, auf Geld- und Produktivvermögen, auf Grundbesitz, also auf Verfügung über Land und Territorien, und mehr denn je zuvor auf intellektuellem Eigentum - alles in nationalstaatlichen und in internationalen Verträgen (von WIPO bis WTO, GATS und BITs, den tausenden von bilateralen Investitionsabkommen) geregelt. Eigentum ist keine statische, vor allem juristische Kategorie. Es ist wertlos ohne Aneignung, und daher kommt alles darauf an, den Prozess der Aneignung eines Überschusses, eines Mehrwerts in Produktion und Akkumulation sicher zu stellen. Erst dann wird mit den ökonomischen Mechanismen des Marktes der Überschuss in der Distributionssphäre umverteilt. Daher wird von den mächtigen Nationen auf dem Weltmarkt schon immer das Lied des Freihandels gesungen, vor allem nachdem sie die Leiter »weggekickt« haben, auf der ihnen andere Nationen, den Lehren der Modernisierungstheorie gehorchend, nachfolgen wollen - wie der britisch-koreanische Ökonom Ha-Joon Chan bemerkt, indem er den deutschen Kritiker der klassischen Freihandelslehre Friedrich List zitiert. Jede WTO-Handelsrunde ist ein Lehrstück über Freihandel als Ideologie und als knallharte Interessenpolitik, mit der wie jüngst in Hong Kong die reichen Länder und Wirtschaftsblöcke die armen Länder über den Tisch ziehen. Daher ist es kein Wunder, dass die von den internationalen Institutionen kalkulierten Handelsgewinne zum überwältigenden Teil bei den reichen Nationen anfallen und für die ärmeren Teilnehmer am Welthandel nur Krumen bleiben.
Zur Sicherung der Aneignung sind die Mächtigen aber auch bereit, politischen Druck und militärische Gewalt zu mobilisieren, also nicht nur auf den »äußren Zwang der Konkurrenz« des Marktes, den »stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse« zu setzen. Man könnte über die Gewalt im Kapitalismus eine Geschichte erzählen, die viel zu lang für eine Abschiedsvorlesung ist und die jede Heiterkeit aus diesem Raum vertreiben würde. Wir sind Zeitzeugen von Gewalt, von Terror, Folter und Kriegen. Das kapitalistische Weltsystem scheint in einem Danteschen Chaos zu versinken. Dies ist die analytische Prognose von Weltsystemtheoretikern wie Immanuel Wallerstein, und sie ist - leider, wie ich normativ hinzufügen möchte - nicht abwegig.
Das Öl nimmt ab - der Öl-Bedarf aber steigt
Ein wichtiger Grund ist der Sachverhalt, dass die glückliche »historische Fundsache«, die Kongruenz von Rationalität, Technik, Markt, kapitalistischen Formen und fossilen Energieträgern verloren geht. Denn das Öl und andere fossile Brennstoffe gehen zur Neige. Vieles spricht dafür, dass der Höhepunkt der weltweiten Ölförderung (Peakoil) in wenigen Jahren überschritten sein wird. Dann gibt es zwar immer noch Öl; die statische Reichweite (geschätzte Reserven dividiert durch den gegenwärtigen Jahresverbrauch) beträgt etwa 40 Jahre. Doch die jährlich neu gefundenen Lager sind wesentlich kleiner als die Jahresförderung, so dass die Bestände abnehmen - und dies bei steigender Nachfrage nach Öl, weil alle neu industrialisierenden Länder, z.B. Indien und China, auf den Treibstoff von Wachstum, Produktivität, die Voraussetzung von westlichem Konsummuster und Mobilität angewiesen sind. Die bereits hoch entwickelten Länder in Nordamerika und Westeuropa sind ihrerseits kaum bereit und in der Lage, ihre Nachfrage zu drosseln.
Die USA haben den Scheitel ihrer Ölförderung (ihr »Peakoil«) bereits Anfang der 1970er Jahre überschritten. Sie können den inländischen Verbrauch mit inländischer Förderung nicht mehr decken. Die entstehenden Diskrepanzen zwischen Angebot und Nachfrage können nur durch Importe überwunden werden. Schon im Mai 2001 (also vor dem 11. September) hat der Vizepräsident der USA Cheney (Ex-Chef von Halliburton) einen Bericht über die Ölsicherheit der USA vorgelegt. Darin wird ausgeführt, dass die heimische Produktion bis 2020 von 8,5 auf 7 Millionen Barrels pro Tag zurückgehen, dass der Ölverbrauch aber von 19,5 auf 25,5 Millionen Millionen Barrels pro Tag zu ansteigen wird und daher die wachsende Lücke durch Importe gedeckt werden müsse. Die Importe sollen um 68 Prozent von 11 auf 18,5 Millionen Barrels pro Tag zu wachsen. Die Sicherung der Energieversorgung erlangt also höchste Priorität in der US-Außenpolitik. Teilweise erklärt dies deren geostrategische Aggressivität beim politischmilitärischen Zugriff auf Ölterritorien oder die Öl- und Gaslogistik. Viele der an die 570 Militärstützpunkte der USA im Ausland befinden sich in den vielen Pipelineistans des Globus. Für die USA war es auch ein entscheidendes Privileg, dass die steigenden Ölimporte in US-Dollar bezahlt werden können. Kein anderes Öl-Importland hat einen ähnlichen Vorteil in Anspruch nehmen können.
Einen bitteren Vorgeschmack auf die möglichen Konflikte haben wir schon heute: das sind beispielsweise die Konflikte um die Gaspipeline auf direktem Wege von Russland durch die Ostsee nach Deutschland, und der Streit zwischen Russland und der Ukraine um Preise und Transitrechte von Erdgas. Darüber hinaus spitzen sich Auseinandersetzungen um die Preisbildung und um die Währung zu, in der die Ölrechnungen ausgestellt werden. Ein neues »great game« um den Zugang zu den Ölressourcen und um deren Verteilung wie am Ausgang des 19. Jahrhunderts ist eröffnet. Diesmal aber ist das »Spielfeld« nicht auf den Kaukasus beschränkt. Es hat globale Ausmaße von Lateinamerika, wo Hugo Chavez versucht, die lateinamerikanische Wirtschaftsintegration mit kontinentalen Energienetzwerken zu forcieren, nachdem die ALCA zum Scheitern gebracht worden ist, bis Ostasien, wo China eine Pipeline in Richtung Zentralasien baut. Heftige Auseinandersetzungen sind also zu erwarten. Das »great game« ist ein Nullsummenspiel, und das haben die USA wohl begriffen. Daher hat ihr Unilateralismus eine höchst rationale Basis, ist also nicht die Marotte der besonders reaktionären Bush-Administration.
Die erwähnte Kongruenz von Kapitalismus und Fossilismus erweist sich nun als eine Falle. Fossile Energien haben ein natürliches Maß. Darauf hat der Club of Rome schon zu Beginn der 1970er Jahre zu Recht verwiesen, auch wenn er sich über das quantitative Ausmaß getäuscht hatte. Denn ihre Verfügbarkeit und die Tragfähigkeit der natürlichen Sphären für die Verbrennungsprodukte, vor allem das Kohlendioxid, sind begrenzt. Doch das gesellschaftliche System des Kapitalismus ist autoreferentiell und daher maßlos, ein »Automat«, der, wie Karl Marx schreibt, die »eingeborne geheime Qualität (besitzt), in geometrischer Progression Mehrwert zu erzeugen«. Diese Maßlosigkeit ist seit Aristoteles Thema und hat ihn veranlasst, zwischen maßvoller (und natürlicher) Hauswirtschaft und maßloser (und daher unnatürlicher) Geldwirtschaft zu unterscheiden.
Die universalgeschichtliche Diagnose der Gegenwart als Geschichte der »longue durée« (Fernand Braudel) des globalen Kapitalismus seit der industriellen Revolution fördert eine politisch außerordentlich relevante Paradoxie zu Tage. Das Wachstum in der Zeit und die Expansion im Raum der kapitalistischen Produktionsweise geraten an Grenzen und gleichzeitig scheint die Überwindung dieser Grenzen immer dringlicher. Sie ist sogar in den normativen Katalog der »good governance« aufgenommen. Regierungshandeln wird daran bewertet, welche Wachstumsraten es hervorzaubern kann. Diese Paradoxie kann nicht mehr mit immanenter oder mit Ideologiekritik aufgelöst werden. Dazu bedarf es der materialistischen Kritik, die mit den Denkformen die gesellschaftlichen Verhältnisse kritisiert, aus denen sie erwachsen. (...)
Kritik, weil wir die Welt verändern müssen
Damit bin ich endlich beim Titel dieser Vorlesung angelangt: beim Pudding. Was ist »the proof of the pudding«? Die Antwort lautet: »it is in the eating«. Man kann nur feststellen, ob der Pudding schmeckt, nachdem man ihn gegessen hat. So einfach ist das. Ich habe dieses englische Sprichwort (das man auch in Verzeichnissen britischer Sprichwörter findet) von Friedrich Engels. Er zitiert in seiner Schrift über »historischen Materialismus« aus dem »Faust« von Goethe: »"Im Anfang war die Tat."« Und fügt hinzu: » menschliche Tat hatte die Schwierigkeit schon gelöst, lange ehe menschliche Klugtuerei sie erfand. The proof of the pudding is in the eating.« Aber um beim Essen Qualitätskriterien anwenden zu können, müssen die Geschmacksnerven, die Sinneszellen, der Geist geschärft werden und viele Erfahrungen gesammelt und verglichen werden, muss man ein »philosophischer Kopf« und kulinarischer Genießer sein. Dann findet man auch eine einfach klingende Antwort auf die Frage im Untertitel dieser Vorlesung: Zu welchem Ende betreiben wir Kapitalismuskritik? Wir betreiben sie in praktischer Absicht, weil wir die Welt verändern müssen, wenn wir wollen, dass sie bleibt. Die Geschichte ist nicht am Ende. Es gibt Alternativen. Es ist notwendig, sie zu erdenken, zu entwickeln und sich für die Realisierung in gesellschaftlicher, d.h. heute in global vernetzter Praxis einzusetzen. Theoretisch im Studium, und praktisch in der Politik.
Die praktische Dimension der Kapitalismuskritik wäre nun genauer zu erläutern und zu studieren. Die Abschiedsvorlesung könnte also das Präludium einer Antrittsvorlesung Schillerschen Formats sein. Das mag Sie erstaunen. Doch hören Sie, was Michel de Montaigne (1533-1592) im dritten Buch seiner »Essais« im 11. Essai »über die Hinkenden« zum Staunen zu sagen hat: » das Staunen ist die Grundlage aller Philosophie, das Forschen ihr Fortschritt, die Unwissenheit ihr Ende. Ja, in der Tat, es gibt eine Unwissenheit, die so fundiert und so weitgespannt ist, dass sie an Würde und Wagemut dem Wissen in keiner Weise nachsteht - eine Unwissenheit, die sich zu erwerben nicht weniger Erkenntnisfähigkeit verlangt als der Erwerb von Wissen.« Wir strengen uns bei der Analyse der kapitalistischen Dynamik mit der uns verfügbaren intellektuellen Kraft an, unser Wissen wächst und zugleich unsere Unwissenheit. Das hat Nikolaus von Kues mit seinem paradoxen Begriff der »gelehrten Unwissenheit« (docta ignorantia) auf den Punkt gebracht. Enttäuschend also, dass Kapitalismuskritik nicht das sichere Wissen ist, das nur in Praxis umgesetzt werden müsste. Das gute und Hoffnungsfrohe aber ist, dass das Wissen um das gelehrte Nichtwissen, also nicht die leider viel weiter verbreitete, geradezu epidemische Dummheit, Freiheitsgrade öffnet für die politische Praxis und dann, in kollektiver Forschung rückwirkend, neue theoretische Einsichten.
Was ich sagen wollte: Eine Abschiedsvorlesung ist keine Abschlussvorlesung, sie ist Teil eines kollektiven Prozesses des theoretischen Suchens und der politisch-praktischen Veränderung. Fortset...
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