Im Sommer 1936 besuchte der französische Schriftsteller André Gide als Sympathisant die Sowjetunion. Nachdem er, enttäuscht von dem, was er dort angesichts des stalinistischen Regimes beobachtet hatte, nach Paris zurückgekehrt war, veröffentlichte er noch im Herbst desselben Jahres seinen Reisebericht »Retour de lU.R.S.S«. Er bezweifle, so schrieb er dort, »dass in irgendeinem Land der Gegenwart, und wäre es Hitler-Deutschland, der Geist weniger frei, mehr gebeugt sei, mehr verängstigt (terrorisiert), in tiefere Abhängigkeit geraten.« Das Buch rief heftige Auseinandersetzungen unter allen Freunden der Sowjetunion, besonders in der kommunistischen Bewegung hervor. Sahen sie doch in der Sowjetunion das Bollwerk im Kampf für Frieden und soziale Gerechtigkeit.
Der Vergleich beider Diktaturen, der stalinistischen Sowjetunion und Hitlerdeutschlands, die zwar auf ganz unterschiedlichem historischen Boden und ideengeschichtlich sogar auf entgegen gesetzten Positionen standen, in der Methode der Herrschaftsausübung allerdings starke Ähnlichkeiten aufwiesen, sollte in der Folgezeit Historiker, Journalisten und Politiker vielfach beschäftigen. Große Resonanz erlebte das Buch von Alan Bullock »Hitler und Stalin«, das Leben und Wirken beider Diktatoren in chronologischer Abfolge und in Parallelität nachzeichnete. Er überließ es allerdings weitestgehend dem Leser, beide miteinander zu vergleichen. Jetzt hat Richard Overy, Jahrgang 1947 und Geschichtsprofessor an der Universität Exeter, ein umfangreiches Buch vorlegt, in dem er, anders als Bullock, die Machtstrukturen Hitlerdeutschlands und der Sowjetunion in der Stalin-Periode einander gegenüberstellt und vergleicht. Er wertete eine beeindruckende Fülle von Quellen und Sekundärliteratur aus. Mit seinem Buch, so Overy, wolle er vor allem die Frage beantworten, »auf welche Weise eine persönliche Diktatur eigentlich funktionierte«, um damit zugleich zu verstehen, »wie die beiden Diktaturen entstanden und was sie bis zum Tod der beiden Diktatoren am Leben erhielt«.
Sicher, dem Fachmann wird kaum Neues geboten. Doch beeindrucken die Ausführungen durch die komprimiert gehaltene Darlegung und scharfsinnige Bobachtungen. Overy ist um eine differenzierte Sicht auf die beiden diktatorischen Systeme und ihre Führer bemüht und sucht sie in den Kontext der europäischen Geschichte zu stellen. Bestimmte historische Umstände hätten es Hitler wie auch Stalin ermöglicht, sich den Weg zum Diktator zu bahnen. Overy distanziert sich von früheren Darstellungen, nach denen die von Hitler und Stalin ausgeübte Macht »total« und »absolut« gewesen sei. »Weder Stalin noch Hitler entsprachen dem Bild eines idealtypischen absoluten Herrschers, der vollkommene Diktator ist eine Erfindung außerhalb der Geschichte.«
Overy betont den fundamentalen Unterschied, der trotz aller Parallelen in der Herrschaftsausübung in den gesellschaftspolitischen Zielvorstellungen bestand: »Stalin wollte die sowjetische Bevölkerung dazu bringen, eine sozialistische Zukunft aufzubauen, die "Gleichheit und Freiheit für alle Menschen" bereithalten würde. Hitlers Ziel war die Errichtung eines "Imperiums der Herrenrasse", erstanden aus dem "Blutbad des Krieges".« Zugleich habe sich in beiden Diktaturen »eine breite Kluft zwischen dem propagierten Ziel und der gesellschaftlichen Wirklichkeit« gezeigt.
Beide Diktaturen hätten ihre politischen Ziele mit vermeintlich wissenschaftlichen Erkenntnissen begründet: In der Sowjetunion habe man sich auf den Marxismus berufen, während sich die Nazidiktatur auf die Rassentheorie stützte. Beide Diktatoren seien von ihrer historischen Mission überzeugt gewesen. Sie hätten es verstanden, ihrer Bevölkerung das Gefühl zu vermitteln, man sei dabei, Geschichte zu schreiben. Allerdings hätten die sozialen Utopien beider Systeme, obwohl ähnlich in der Form, in ihren Zielen weit auseinander gelegen. Zu den zahlreichen Metaphern der Diktatur habe auch der Personenkult gehört, der den Führern Hitler und Stalin übermenschliche Tugenden zuschrieb.
Als weitere Gemeinsamkeiten nennt Overy tief reichende Ängste und Unsicherheiten, die zur Konstruktion eines im Untergrund lauernden Feindes geführt hätten und letztlich ein Ausdruck der Schwäche gewesen sei. Dies habe ein Schwarzweißdenken und einen Kult des Hasses und der Gewaltbereitschaft hervorgerufen. »Auf lange Sicht zog dies verheerend destruktive Folgen nach sich, die weit über das hinausgingen, was die beiden Diktatoren sich je hätten ausmalen können.« Letztlich habe auch der Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion hierzu gehört. »Die bloße Aufzählung der jedes menschliche Vorstellungsvermögen übersteigenden Opferzahlen hebt die beiden Diktaturen von allen anderen ab, was die neuzeitliche Geschichte zu bieten hat.«
Overy kann aus früheren Forschungen schöpfen, insbesondere aus denen zu seinem Buch »Russlands Krieg 1941-1945« (vgl. ND, 19. 3. 2004). Er bestätigt erneut, dass Stalin den Krieg zu vermeiden suchte. Den Grund für den Sieg der Sowjetunion sieht er nicht nur in ihrer moralischen Überlegenheit gegenüber den Aggressoren, sondern auch darin, dass sie es besser als ihr Gegner verstand, ihre Ressourcen zu mobilisieren. Overy fragt auch nach dem Verhältnis der Bevölkerung zur jeweiligen Diktatur. Beiden Gesellschaftssystemen sei es gelungen, große Teile für ihre Politik einzunehmen. »Man griffe zu kurz, wollte man die Diktaturen lediglich als politische Unterdrückungssysteme verstehen; sehr viele von denen, die ihnen bereitwillig Gefolgschaft leisteten, versprachen sich von ihnen Befreiung, Sicherheit, gefestigte Identität oder persönliche Vorteile.« Man dürfe nicht aus heutiger Sicht die propagandistische Beeinflussung der Menschen unterschätzen, wie man ebenso wenig das politische Bewusstsein der Masse überschätzen dürfe. Overy folgt in dieser Hinsicht neuen Untersuchungen und Interpretationen der Historiographie, die die Frage zu beantworten suchen, inwieweit nicht zumindest bestimmte Teile der Bevölkerung in diesen Herrschaftssystemen Vorteile für sich sahen und weshalb der Widerstand gegen das Regime in beiden Staaten relativ gering war.
In seinem Bemühen, die verschiedenen Ebenen der beiden Herrschaftssysteme zu vergleichen, folgt der Autor verschiedentlich einem gewissen Schematismus. Die unterschiedlichen sozialökonomischen Grundlagen wären tiefgründiger zu erfassen. Die Aussage, dass »die Wirtschaft im Nationalsozialismus keine Veranstaltung zum Nutzen des privaten Kapitalismus« gewesen sei, erscheint angesichts der hohen Profite, die das Industrie- und Finanzkapital aus Aufrüstung und Kriegführung zog, höchst fragwürdig.
Richard Overy: Die Diktatoren. Hitlers Deutschland, Stalins Russland. DVA, 1023 S., geb., 48 EUR (zu bestellen auch über ND-Buchbestellservice, Tel: 030/29 78 17 77).
Unser Autor, em. Professor der Humboldt-Universität, ist Experte für deutsch-russische Beziehungen.