hmij.iii.1.1 Feuer für die PVC-Debatte
Neue EU-Studien weisen dem Kunststoff den Weg in die Müllverbrennung
Von Lucian Haas
Über Polyvinylclond (PVC) wird seit Jahren heftig gestritten. Für die einen ist er ein billiger, stabiler Kunststoff, der zu Fensterprofilen, Rohren, Bodenbelägen, Plastik Spielzeug oder Folien verarbeitet wird. Für die anderen ist er ein großes Problem für die Umwelt.
Das Element Chlor, zu 57 Prozent Grundbestandteil des PVC, ist auch die Basis für giftige Dioxine. Die können entstehen, wenn chlorhaltiges Material verbrennt. Besonders die Umweltverbände würden darum PVC am liebsten aus der Welt verbannen.
Neuen Stoff, um diesen Streit lebendig zu halten, liefert derzeit die EU-Kommission. Ende 1998 gab sie fünf Studien in Auftrag, um einen Überblick über Entsor gungswege und -probleme des PVC zu bekommen. Mittlerweile liegen vier der Studien über die Möglichkeiten vor, PVC zu deponieren, zu verbrennen sowie werk stofflich oder rohstofflich zu recyceln. Und die Kontrahenten in der PVC-Debatte munitionieren sich mit den neuen Daten als Bestätigung für ihre Argumente. Beide Parteien führen dabei dieselben Zahlen ins Feld - allerdings mit unterschiedlicher Deutung.
Axel Singhofen, Chemie-Experte im Brüsseler Greenpeace-Büro, sieht beispielsweise in der europaweiten Zunahme der PVC-Abfallmengen von heute 4,3 Millionen auf 7,2 Millionen Tonnen im Jahr 2020 eine »Sorge ohne Ende«. Werner Preusker hingegen, Geschäftsführer der industrienahen Arbeitsgemeinschaft PVC und Umwelt (AGPU), nennt diese vom Baseler Prognos-Institut aufgestellte Abfallprognose als Beweis dafür, dass in Zukunft keine PVC-Mülllawine in Europa drohe.
Eins macht die Recycling-Studie von Prognos deutlich: Der Großteil des PVC wird auch in Zukunft ohne Wiederkehr entsorgt werden müssen. Denn die Menge der PVC-Abfälle, die werkstofflich recycelt werden, wo aus Fenstern wieder Fenster und aus Rohren wieder Rohre werden, steigt von heute drei Prozent auf höchstens 18 Prozent im Jahr 2020. Und auch das rohstoffliche Recycling, bei dem der Plastikmüll vergast und in neue Rohstoffe aufgespalten wird, soll laut der EU-Studie des niederländischen Institutes für angewandte Forschung (TN0) bis 2010 nur einen Anteil von höchsten fünf Prozent er reichen. Der übergroße Rest landet weiterhin entweder auf Deponien - in Deutschland derzeit rund 50 Prozent - oder in der Müllverbrennung.
Greenpeace-Sprecher Singhofen folgert daraus: »Recycling kann nicht zur Lösung des PVC-Problems beitragen.« Die AGPU wiederum sieht sich darin bestätigt, dass PVC recycelbar ist. Auch das galt lange als Streitpunkt. Bleibt die Frage, wie PVC am besten zu entsorgen ist. »Nicht auf einer Deponie«, sagt Dr. Peter Spillmann, Professor am Lehrstuhl für Abfallwirtschaft der Uni Rostock und einer der Autoren der EU-Studie über das Deponie-Verhalten von PVC. Als Grund nennt er zum einen die Gefahr von Schwelbränden in Müllhalden, da dabei Dioxin entstehen könne. Zum anderen könnten Zusatzstoffe des PVC auch noch nach sehr langer Zeit als Abgas oder im Sickerwasser aus einer Deponie entweichen. Problematisch sind dabei vor allem die als Kunststoff-Weichmacher eingesetzten Phtalate. Sie sind schwer abbaubar und gelten als gesundheitsschädlich - weshalb in der EU seit Dezember 1999 der Verkauf von Baby- Spielzeug aus phtalathaltigem Weich-PVC verboten ist.
So erscheint derzeit die Verbrennung als der gangbarste Weg der PVC-Entsorgung. Gestützt wird dies durch die Ergebnisse der EU-Studie über den Einfluss von PVC auf Menge und Gefährlichkeit der Rück stände aus der Rauchgasreinigung von Müllverbrennungsanlangen (MVA). »Die zusätzlichen Kosten, die beim Verbrennen von PVC in Müllverbrennungsanlagen anfallen, sind marginal«, sagt Dr. Jügen Vehlow, Experte für thermische Abfallbehandlung am Forschungszentrum Karlsruhe und einer der Autoren der Studie. MVA benötigen weder größere Filteranlagen noch besondere Chemikalien zur Rauchgasreinigung, um die durchschnittlichen Gewichtsanteile von einem Prozent PVC im Siedlungsmüll zu verarbeiten, so die Studie. Nach dem Verbrennen fallen nur mehr Salze und Filterstäube an, die teilweise als Sondermüll entsorgt werden müssen. Je nach Reinigungs-Verfahren können dies zwischen 0,4 und 1,4 Kilogramm je Kilogramm PVC sein. »Noch mehr Sondermüll«, klagt angesichts dieser Zahlen Greenpeace-Sprecher Singhofen. »Das Ziel der Verbrennung, die Abfall- Massen zu reduzieren, wird ad absurdum geführt.« Die AGPU hingegen verweist auf den geringen Einfluss des PVC-Abfalls auf die Betriebskosten der MVA und die Möglichkeit, die Rückstande wieder zu ver werten und so weiter zu reduzieren.
Die EU-Kommission selbst will sich zu den Studien erst äußern, wenn alle fünf Arbeiten vorliegen. Sie sollen eine der Grundlagen bilden, auf denen die EU ihre künftige Strategie zum Umgang mit PVC diskutiert. 1998 hatte die EU-Kommission entschieden, die Frage der PVC-Entsor gung nicht im Rahmen von Richtlinien für einzelne Bereiche wie Altautos, Bauschutt oder Elektronikschrott zu behandeln, sondern eine generell geltende Quer schnittslösung zu suchen. Die fünf Studien zur PVC-Entsorgung stellen den ersten Schritt dieser »Horizontal-Initiative« dar. An deren Ende könnte eines Tages eine PVC-Richtlinie stehen. Der Weg dorthin ist lang. »Wir wollen aus den Studien noch keine Entscheidungsgrundlagen ableiten«, sagt Ludwig Krämer, Leiter der Abteilung Abfallbewirtschaftung in der EU- Generaldirektion Umwelt. Vielmehr sollen sie in ein Grünbuch zum Thema PVC einfließen, das als Grundlage für die weiteren Diskussionen über den Umgang mit PVC dienen soll. Noch ist offen, wann die EU das Grünbuch veröffentlichen wird. Ebenso offen ist, ob darin die strittige Frage aufgeworfen wird, welche Dioxin-Gefahren das Produzieren, Nutzen und Entsor gen von PVC birgt. Denn in den Studien blieb dieser Punkt fast völlig ausgeblendet. Warum? Dr. Jürgen Vehlow vermutet: »Das Thema Dioxin war der EU-Kommission zu politisch.«
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