Vae victis - Wehe dem Besiegten!
Zum 50. Jahrestag der NVA: Trotz Demokratisierung, die Feldherrn auf der Hardthöhe befahlen die Abwicklung
Offiziell am 1. März 1956 gegründet, endete das Dasein der Nationalen Volksarmee mit dem 3. Oktober 1990. Mit dem Beitritt der DDR zum Grundgesetz der Bundesrepublik erloschen die Rechte und Pflichten der Soldaten der NVA. Ihr Dienstverhältnis »ruhte«, so der Einigungsvertrag. Am 4. Oktober 1990 übernahmen Offiziere der Bundeswehr (West) das Kommando über alle militärischen Verbände und Einrichtungen in den »neuen Ländern«. Das irreführende Schlagwort von der »Armee der Einheit« war geboren.
Zwei Jahre später präsentierte Minister Volker Rühe diese offizielle Sicht auf einer Kommandeurstagung in Leipzig: »Die Bundeswehr hat wie keine zweite gesellschaftliche Institution ernst gemacht, die Teilung durch Teilen zu überwinden.« Doch ein Blick in die Runde der dort Versammelten ließ die Wahrheit offenbar werden: Fast alle anwesenden 400 Generale, Admirale und Obersten kamen aus der alten Bundeswehr, nur ein einziger aus aus der früheren NVA - der Chefarzt des aufzubauenden Zentralkrankenhauses in Berlin.
Die angeblich vorbildhafte militärische Vereinigung, die eigentlich eine Abwicklung der NVA war, begann unter Minister Gerhard Stoltenberg. Kanzleramt und Hardthöhe misstrauten der »Armee der SED« zutiefst. Die Doktrin des Kalten Krieges, vom Osten bedroht zu sein, sollte noch eine späte Wirkung zeitigen. Das ehedem außenpolitisch ausgerichtete Feindbild wurde im Prozess der Einigung innenpolitisch instrumentalisiert. Resultat war die restlose Delegitimierung der NVA, verbunden mit pauschaler Diffamierung. Westdeutsche Berufsoffiziere vertraten die Auffassung, ein Offizier der NVA habe »nie den gleichen Beruf ausgeübt« wie Offiziere anderer Nationen; denn »geistig trennten uns Weltanschauungen und Welten«. »Brüder in Uniform« sollte es in Deutschland nicht geben. »Die ehemaligen NVA-Offiziere können das sozialistische Gedankengut auch beim besten Willen nicht von heute auf morgen abstreifen«, meinte Hans-Joachim Reeb. Da fiel auch nicht ins Gewicht, dass die NVA im Herbst 1989 nicht die Waffen gegen das Volk gerichtet hatte. Spontane Verbrüderungen zwischen deutschen Armeeangehörigen hatten zu unterbleiben. Meldungen direkt nach dem Fall der Mauer, Soldaten aus Ost und West hätten sich singend an einem Lagerfeuer in den Armen gelegen, waren auf der Hardthöhe nicht wohl gelitten.
Nach der Entmachtung von Erich Honecker hatten Egon Krenz und Hans Modrow die DDR auf den Kurs demokratischer Reformen gebracht. In Berlin-Grünau hatte es einen »Runden Tisch der Militärreform« gegeben, der im wahrsten Sinne radikale, an die Wurzeln gehende Visionen eines Militärs der Zukunft mit geradezu revolutionären Impulsen eines Friedensgebotes zu formulieren vermochte. In »Militärpolitischen Leitsätzen« für eine Reform der NVA wurde gefordert, die Rolle des militärischen Faktors in den internationalen Beziehungen abzubauen, um gemeinsame Sicherheit in Europa zu erreichen. Kaum war dies als Gesetz der Volkskammer verkündet, kamen Offiziere der Militärpolitischen Hochschule der SED im Januar 1990 zu dem Ergebnis, eine Politik umfassender Entmilitarisierung und »nichtmilitärisches Sicherheitsdenken« sei in Europa notwendig. Solche Ansätze hatten aufgeschlossene Offiziere in der DDR schon vorher vertreten, vor allem nachdem die Sowjetunion 1987 den Ersteinsatz von Atomwaffen aufgegeben hatte. Ausgehend von der Tatsache, dass moderne Industriestaaten nicht mit Atomwaffen verteidigt werden könnten und somit eigentlich eine Kriegsführungsunfähigkeit gegeben sei, gaben sie dem politischen Ziel »Erhaltung des Friedens« Priorität vor dem sozialistischen Postulat der »Klassenprobleme«. Die NVA hatte sich zu häuten begonnen. Einzelne, wohl zu wenige, brachen aus dem festen System aus. Lange bevor die Steine aus der Mauer gebrochen wurden, war die NVA nicht mehr die alte, laut DDR-Verfassung der SED total folgende Armee. Das System war, das wusste die Militärführung der NVA nur zu gut, längst »zerbröselt«.
Diese Ansätze zu einer militärischen Reform wurden jedoch von der Hardthöhe nicht gewürdigt, geschweige aufgenommen. Für die NVA kamen sie zu spät. Sie konnten die Geschichte nicht mehr nachholen. Und auch die Annahme vieler Offiziere und Soldaten, nach dem 3. Oktober 1990 zusammen mit Kameraden aus dem Westen die Integration der NVA durchzuführen, erwies sich als Illusion. Für einen gleichberechtigten Umgang miteinander hatte sich auch der letzte Verteidigungs- und Abrüstungsminister der DDR, Rainer Eppelmann, eingesetzt. Erst in letzter Minute erkannte er seinen Irrtum. Am 2. Oktober 1990 notierte er resigniert in sein Tagebuch: »Leider stieß ich bei den Kollegen und Generälen auf der Hardthöhe auf wenig Gegenliebe.«
Die NVA wurde etappenweise aufgelöst. Alle höheren Offiziere erhielten mit der Einigung die blauen (Entlassungs-)Briefe. Von den 2110 Obersten bzw. Kapitänen, die es zum Zeitpunkt der Vereinigung gab, waren Mitte 1991 gerade noch 28 angestellt, daneben zehn im Sanitätsdienst. Diejenigen Offiziere, die einen Zeitvertrag angeboten bekamen, wurden in der Regel um einen oder zwei Dienstgrade herabgestuft. Von den 8180 Oberstleutnanten hatten im Juni 1991 noch 612 einen Vertrag. Etwa drei Viertel aller NVA-Offiziere quitierten bis Ende 1991 ihren Dienst. Wenig später war das ehemalige Offizierkorps auf 8,4 Prozent des alten Bestandes dezimiert. Die Bundeswehr übernahm nur 2720 jüngere Offiziere der früheren NVA. Diskriminierend war auch, den angestellten Soldaten aus dem Osten nur 60 Prozent des Regelgehalts auszuzahlen, während man denen aus dem Westen, die in den Osten gingen, auf ihr volles Gehalt noch das üppige »Buschgeld« drauflegte. Die Soldaten der NVA sollten deklassiert werden. Am 9. Februar 1993 wurde den ehemaligen Offizieren das öffentliche Tragen ihres Dienstgrades mit dem Zusatz »d. R.« oder »a. D.« untersagt; von da an galten sie als »Gediente in fremden Streitkräften«. Das war ein Handeln aus Siegermentalität. Das alte Wort »vae victis!« (Wehe dem Besiegten) galt immer noch. Gegenüber Strausberg gebärdete sich die Hardthöhe als harte Höhe, vom Feldherrnhügel der Sieger, wo der Dunst des verinnerlichten Feindbildes wie im Getümmel des Kalten Krieges die Sicht trübte.
Die administrierte Abwicklung der NVA war 1995 abgeschlossen: Am 16. Februar wurde in die Traditionsrichtlinien der Bundeswehr (ZDV 10/1) der definitive Zusatz eingefügt: »Unstrittig ist jedoch, dass die ... aufgelöste Nationale Volksarmee ... keine Tradition für die Bundeswehr stiften kann.« Das geschah fünfzig Jahre nach Kriegsende, als in Bonn ein heftiger Streit über die Beziehungen zur Wehrmacht und über die Fragen einer Verstrickung der Wehrmacht in das NS-Regime ausgefochten wurde. Man kann sich kaum vorstellen, in Richtlinien der Bundeswehr stünde gleiches über die Tradition zur Wehrmacht.
Sicher, die NVA war eine obrigkeitliche Armee in eigener Weise, aber doch ganz charakteristisch in der Tradition der deutschen Militärgeschichte stehend. Ihre Führungskader waren nach alter Manier korporativ abgeschlossen und sozial privilegiert. Unentwickelte gesellschaftliche Beziehungen isolierten die NVA, die keine Volks-Armee war. Die fast vierzigjährige Geschichte des Militärs in der DDR ist jedoch auch nicht ausreichend mit dem Monolith »Armee der SED« zu erfassen. Genaues Hinsehen tut Not, um Strömungen und Gegenströmungen in ihrer Wirklichkeit und in den historischen Relationen zu erfassen. Die Historisierung der NVA wird ihr den angemessenen Ort in der Geschichte zuweisen. Das wird nicht ohne kritischen Vergleich mit der Bundeswehr möglich sein.
Der Münchener Historiker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg; jüngst erschien von ihm bei Beck »Die Bund...
Zwei Jahre später präsentierte Minister Volker Rühe diese offizielle Sicht auf einer Kommandeurstagung in Leipzig: »Die Bundeswehr hat wie keine zweite gesellschaftliche Institution ernst gemacht, die Teilung durch Teilen zu überwinden.« Doch ein Blick in die Runde der dort Versammelten ließ die Wahrheit offenbar werden: Fast alle anwesenden 400 Generale, Admirale und Obersten kamen aus der alten Bundeswehr, nur ein einziger aus aus der früheren NVA - der Chefarzt des aufzubauenden Zentralkrankenhauses in Berlin.
Die angeblich vorbildhafte militärische Vereinigung, die eigentlich eine Abwicklung der NVA war, begann unter Minister Gerhard Stoltenberg. Kanzleramt und Hardthöhe misstrauten der »Armee der SED« zutiefst. Die Doktrin des Kalten Krieges, vom Osten bedroht zu sein, sollte noch eine späte Wirkung zeitigen. Das ehedem außenpolitisch ausgerichtete Feindbild wurde im Prozess der Einigung innenpolitisch instrumentalisiert. Resultat war die restlose Delegitimierung der NVA, verbunden mit pauschaler Diffamierung. Westdeutsche Berufsoffiziere vertraten die Auffassung, ein Offizier der NVA habe »nie den gleichen Beruf ausgeübt« wie Offiziere anderer Nationen; denn »geistig trennten uns Weltanschauungen und Welten«. »Brüder in Uniform« sollte es in Deutschland nicht geben. »Die ehemaligen NVA-Offiziere können das sozialistische Gedankengut auch beim besten Willen nicht von heute auf morgen abstreifen«, meinte Hans-Joachim Reeb. Da fiel auch nicht ins Gewicht, dass die NVA im Herbst 1989 nicht die Waffen gegen das Volk gerichtet hatte. Spontane Verbrüderungen zwischen deutschen Armeeangehörigen hatten zu unterbleiben. Meldungen direkt nach dem Fall der Mauer, Soldaten aus Ost und West hätten sich singend an einem Lagerfeuer in den Armen gelegen, waren auf der Hardthöhe nicht wohl gelitten.
Nach der Entmachtung von Erich Honecker hatten Egon Krenz und Hans Modrow die DDR auf den Kurs demokratischer Reformen gebracht. In Berlin-Grünau hatte es einen »Runden Tisch der Militärreform« gegeben, der im wahrsten Sinne radikale, an die Wurzeln gehende Visionen eines Militärs der Zukunft mit geradezu revolutionären Impulsen eines Friedensgebotes zu formulieren vermochte. In »Militärpolitischen Leitsätzen« für eine Reform der NVA wurde gefordert, die Rolle des militärischen Faktors in den internationalen Beziehungen abzubauen, um gemeinsame Sicherheit in Europa zu erreichen. Kaum war dies als Gesetz der Volkskammer verkündet, kamen Offiziere der Militärpolitischen Hochschule der SED im Januar 1990 zu dem Ergebnis, eine Politik umfassender Entmilitarisierung und »nichtmilitärisches Sicherheitsdenken« sei in Europa notwendig. Solche Ansätze hatten aufgeschlossene Offiziere in der DDR schon vorher vertreten, vor allem nachdem die Sowjetunion 1987 den Ersteinsatz von Atomwaffen aufgegeben hatte. Ausgehend von der Tatsache, dass moderne Industriestaaten nicht mit Atomwaffen verteidigt werden könnten und somit eigentlich eine Kriegsführungsunfähigkeit gegeben sei, gaben sie dem politischen Ziel »Erhaltung des Friedens« Priorität vor dem sozialistischen Postulat der »Klassenprobleme«. Die NVA hatte sich zu häuten begonnen. Einzelne, wohl zu wenige, brachen aus dem festen System aus. Lange bevor die Steine aus der Mauer gebrochen wurden, war die NVA nicht mehr die alte, laut DDR-Verfassung der SED total folgende Armee. Das System war, das wusste die Militärführung der NVA nur zu gut, längst »zerbröselt«.
Diese Ansätze zu einer militärischen Reform wurden jedoch von der Hardthöhe nicht gewürdigt, geschweige aufgenommen. Für die NVA kamen sie zu spät. Sie konnten die Geschichte nicht mehr nachholen. Und auch die Annahme vieler Offiziere und Soldaten, nach dem 3. Oktober 1990 zusammen mit Kameraden aus dem Westen die Integration der NVA durchzuführen, erwies sich als Illusion. Für einen gleichberechtigten Umgang miteinander hatte sich auch der letzte Verteidigungs- und Abrüstungsminister der DDR, Rainer Eppelmann, eingesetzt. Erst in letzter Minute erkannte er seinen Irrtum. Am 2. Oktober 1990 notierte er resigniert in sein Tagebuch: »Leider stieß ich bei den Kollegen und Generälen auf der Hardthöhe auf wenig Gegenliebe.«
Die NVA wurde etappenweise aufgelöst. Alle höheren Offiziere erhielten mit der Einigung die blauen (Entlassungs-)Briefe. Von den 2110 Obersten bzw. Kapitänen, die es zum Zeitpunkt der Vereinigung gab, waren Mitte 1991 gerade noch 28 angestellt, daneben zehn im Sanitätsdienst. Diejenigen Offiziere, die einen Zeitvertrag angeboten bekamen, wurden in der Regel um einen oder zwei Dienstgrade herabgestuft. Von den 8180 Oberstleutnanten hatten im Juni 1991 noch 612 einen Vertrag. Etwa drei Viertel aller NVA-Offiziere quitierten bis Ende 1991 ihren Dienst. Wenig später war das ehemalige Offizierkorps auf 8,4 Prozent des alten Bestandes dezimiert. Die Bundeswehr übernahm nur 2720 jüngere Offiziere der früheren NVA. Diskriminierend war auch, den angestellten Soldaten aus dem Osten nur 60 Prozent des Regelgehalts auszuzahlen, während man denen aus dem Westen, die in den Osten gingen, auf ihr volles Gehalt noch das üppige »Buschgeld« drauflegte. Die Soldaten der NVA sollten deklassiert werden. Am 9. Februar 1993 wurde den ehemaligen Offizieren das öffentliche Tragen ihres Dienstgrades mit dem Zusatz »d. R.« oder »a. D.« untersagt; von da an galten sie als »Gediente in fremden Streitkräften«. Das war ein Handeln aus Siegermentalität. Das alte Wort »vae victis!« (Wehe dem Besiegten) galt immer noch. Gegenüber Strausberg gebärdete sich die Hardthöhe als harte Höhe, vom Feldherrnhügel der Sieger, wo der Dunst des verinnerlichten Feindbildes wie im Getümmel des Kalten Krieges die Sicht trübte.
Die administrierte Abwicklung der NVA war 1995 abgeschlossen: Am 16. Februar wurde in die Traditionsrichtlinien der Bundeswehr (ZDV 10/1) der definitive Zusatz eingefügt: »Unstrittig ist jedoch, dass die ... aufgelöste Nationale Volksarmee ... keine Tradition für die Bundeswehr stiften kann.« Das geschah fünfzig Jahre nach Kriegsende, als in Bonn ein heftiger Streit über die Beziehungen zur Wehrmacht und über die Fragen einer Verstrickung der Wehrmacht in das NS-Regime ausgefochten wurde. Man kann sich kaum vorstellen, in Richtlinien der Bundeswehr stünde gleiches über die Tradition zur Wehrmacht.
Sicher, die NVA war eine obrigkeitliche Armee in eigener Weise, aber doch ganz charakteristisch in der Tradition der deutschen Militärgeschichte stehend. Ihre Führungskader waren nach alter Manier korporativ abgeschlossen und sozial privilegiert. Unentwickelte gesellschaftliche Beziehungen isolierten die NVA, die keine Volks-Armee war. Die fast vierzigjährige Geschichte des Militärs in der DDR ist jedoch auch nicht ausreichend mit dem Monolith »Armee der SED« zu erfassen. Genaues Hinsehen tut Not, um Strömungen und Gegenströmungen in ihrer Wirklichkeit und in den historischen Relationen zu erfassen. Die Historisierung der NVA wird ihr den angemessenen Ort in der Geschichte zuweisen. Das wird nicht ohne kritischen Vergleich mit der Bundeswehr möglich sein.
Der Münchener Historiker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg; jüngst erschien von ihm bei Beck »Die Bund...
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