Lächeln für den Aufschwung und mehr Jobs, Lächeln für den WM-Titel. Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundestrainer Jürgen Klinsmann machen es vor. Optimismus ist angesagt. In einer Gelsenkirchener Hartz-IV-Selbsthilfegruppe findet man das eher lächerlich.
»Reine Polit-Show«, kritisiert Doris Stöcker, und ein anderer meint, er könne sich auch selbst »verarschen«. Die Gruppe - rund 20 Frauen und Männer - treiben andere Probleme um: In der Nachbarstadt Bochum wird Druck gemacht, Jochen Sombetzki hat von mehr als 2000 angedrohten Zwangsumzügen gehört. »Das ist in Recklinghausen auch nicht anders«, weiß Ralf Schubert, der dort lebt. Alle 14 Tage donnerstags kommt er nach Gelsenkirchen zu der Selbsthilfegruppe um den gastgebenden Pfarrer Dieter Heisig. Die Initiative trifft sich dort im Ladenlokal des evangelischen Industrie- und Sozialpfarramtes. »Bei uns gibt es nichts Vergleichbares«, sagt Ralf Schubert schulterzuckend.
Eine Unterschriftenaktion habe die Umzugswelle in Recklinghausen vorerst gestoppt. »Vorerst«, wiederholt er und berichtet von einer Aktion in Oberhausen, wo Betroffene mit Schlafsäcken vor dem Rathaus übernachtet hätten, um gegen den erzwungenen Wohnungswechsel zu protestieren.
Adela Vorderwülbeck berichtet vom landesweiten Vernetzungstreffen von Erwerbsloseninitiativen in Bochum. Die Gelsenkirchener waren zum ersten Mal dabei, Vorderwülbeck hingegen ist politisch erfahren: Die aktive Gewerkschafterin engagiert sich in der Frauenbewegung und wehrte sich schon Ende der 70er Jahre, als Arbeitersiedlungen für Spekulanteninteressen platt gemacht werden sollten.
Den größten Kampf ihres Lebens habe sie dennoch fast verloren, sagt sie. Anfang der 90er Jahre wurde sie von einer schweren Krankheit aus dem Arbeitsleben gerissen. Für die Floristik-Meisterin, die in ihrem Bereich auch in der Aus- und Fortbildung tätig war, begann der lange Kampf gegen den sozialen Abstieg. »In den so genannten ersten Arbeitsmarkt bin ich nicht mehr reingekommen«, blickt sie zurück.
Phasen der Arbeitslosigkeit wechselten sich mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oder Fortbildungen ab, bis sie schließlich bei Hartz IV landete. »Hätte es Hartz IV schon vor zehn Jahren gegeben - ich hätte die Zeit nach meiner Krankheit nicht überlebt«, ist sie sich sicher. Damals hatte sie finanzielle Reserven. Auch der Druck sei noch nicht so groß gewesen. »Die Rutschbahn nach unten war nicht so steil wie heute. Der Umgang der Behörden mit einem war noch nicht so offen herablassend, schroff und diskriminierend«, sagt sie.
Auf Anraten ihrer Ärztin ließ sich die 54-Jährige frühverrenten. Hartz IV zwang sie in eine gerichtliche Auseinandersetzung. »Die habe ich gewonnen. Aber ich merke, wie die Kräfte schwinden«, sagt Adela Vorderwülbeck leise. Die Rente sichere ihr gerade so das materielle Überleben. Sie engagiert sich trotzdem weiter. »Mir hat die politische Auseinandersetzung auch immer geholfen, die Dinge für mich und in meinem Kopf klar zu kriegen. Sonst hätten Krankheit und Arbeitslosigkeit mich gebrochen«, sagt sie.
Auch in der Gruppe wird die politische Auseinandersetzung wichtiger, hat Pfarrer Dieter Heisig beobachtet. Die Bundestagswahlen 2005 wurden benutzt, um auf die tiefen Einschnitte durch Hartz IV und andere arbeitsmarktpolitische Themen aufmerksam zu machen, erzählt er. Auch nach den Wahlen hat die Gruppe immer wieder Aktionen organisiert.
Doch politische Fragen werden oft von den vielen persönlichen Sorgen und Nöten verdrängt, die nach individuellen Antworten verlangen. Bei Bärbel etwa wurde die Begleitperson bei einem Beratungsgespräch kurzerhand vor die Tür gesetzt, bei einem anderen sind es ohne ersichtlichen Grund einbehaltene Gelder.
»Bei diesen ganz konkreten Dingen steht der Einzelne schlussendlich doch alleine da und muss es durchfechten«, stellt Joachim Sombetzki fest. Denn obwohl hier Menschen an einem Tisch sitzen, die mittlerweile Experten in Sachen Hartz IV sind, können sie nicht alle der anfallenden Fragen selbst klären. Doch Marlies Mrotzek stellt klar: »Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass das alles nur Einzelfälle sind«. Die Historikerin will die Fälle in einer Ausstellung und in einem Buch dokumentieren, um das System hinter den vermeintlichen Einzelschicksalen zu zeigen.
Sie weiß, dass viel Arbeit vor ihr liegt. Doch Vereinzelung macht stumm, und das ist schlimmer. Viele würden sich gar nicht aus der Anonymität heraustrauen, außerhalb des Schutzes der Selbsthilfegruppe verheimlichen, dass sie in Hartz IV gerutscht sind. »Genau dem will ich entgegentreten«, begründet Marlies Mrotzek. »Unsere kleine Gruppe hier ist doch nur die Spitze eines riesengroßen Eisberges.« Und den will sie sichtbar machen, im neuen Land des Lächelns der Merkels und der Klinsmänner.
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