Stoßgebete überm heiligen Rasen

Einweihung des neuen Wembley-Stadions in London verzögert sich auf peinliche Weise

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: ca. 2.5 Min.

40 Jahre nach dem WM-Finale zwischen England und Deutschland sehen sich am Montag und Dienstag Spieler beider Teams in London wieder. Zur deutschen Delegation, die gemeinsam mit den einstigen Kontrahenten das neue Wembley-Stadion besuchen wird, gehören Uwe Seeler und Franz Beckenbauer. Bei den Briten sind Bobby Charlton, Alan Ball und Martin Peters dabei. Bis das neue Wembley-Stadion ruhmreiche Schlagzeilen wie das alte produziert, kann es aber noch eine Weile dauern.

Es soll das beste, modernste, großartigste Fußballstadion der Welt werden. Im Augenblick tendiert es zu einer der größten Peinlichkeiten der Fußballgeschichte. Die Fertigstellung des neuen Wembley-Stadions, 13 Kilometer nordwestlich von Londons Piccadilly Circus, liegt arg in Verzug.

Spiele gestrichen
Die jüngste Hiobsbotschaft kam vom Chef des australischen Bauunternehmens Multiplex, das 2002 den Jahrhundertauftrag erhalten hatte. Andrew Roberts teilte mit, dass die Verluste der Firma auf umgerechnet 184 Millionen Euro gestiegen seien. Die abschließenden Kosten fürs neue Nationalstadion konnten nun bis auf anderthalb Milliarden Euro wachsen, nachdem sie 1999 für etwa die Hälfte veranschlagt worden waren.
Was die Fans mehr umtreibt: Der Fußballverband FA, der Eigentümer des Nationalstadions ist, räumte ein, dass sich die Wiedereinweihung um weitere Monate verzögern könne. In jedem Falle findet das für den 13. Mai als Einweihung angekündigte Pokalfinale wieder nicht in London, sondern erneut im walisischen Cardiff statt.
Die FA ist darauf eingestellt, mindestens zehn Fußballspiele bzw. Großkonzerte zu streichen oder zu verlegen. Bereits die letzten Vorbereitungsspiele von Englands Nationalelf auf die WM-Endrunde am 30. Mai gegen Ungarn und am 3. Juni gegen Jamaika wurden nach Manchester verlegt.
Der Fußballverband entwirft derzeit Notstandspläne für den Fall, dass die Baustelle mit über 3500 Arbeitern noch mehr ins Rutschen kommt und Multiplex pleite geht. Die Firma hatte 2002 einen Festpreis garantiert und ebenso wie die FA versichert, das englische Pokalendspiel werde im WM-Jahr 2006 stattfinden können.
Gerichtliche Auseinandersetzungen mit Multiplex, Streiks von Gewerkschaften, die sich gegen den Ausbeutungsdruck auf der Sieben-Tage-Baustelle stemmen, mehrfache Änderungen am Entwurf von Sir Norman Foster (Reichstagskuppel in Berlin) und witterungsbedingte Verzögerungen haben zu den Stoßgebeten für den heiligen Rasen geführt.
Eigentlich sollte das Stadion schon Ende Januar an die FA übergeben werden. Der künftige Komplex auf dem Gelände des alten, 1999 abgerissenen Stadions, ist ebenso ehrgeizig wie kostspielig. Inzwischen wird er auch im Kontext der Olympischen Spiele 2012 in London diskutiert.

3000 Arbeiter evakuiert
In diesen Tagen soll das selbst tragende Stadiondach fertig werden. Es wird von einem über 300 Meter langen, bis zu 133 Meter hohen stählernen »Regenbogen« überragt, der nach Wegfall der Zwillingstürme des alten Stadions als neues Wembley-Wahrzeichen dient. Gestern mussten wegen des Absackens von Teilen der Dachkonstruktion allerdings über 3000 Arbeiter evakuiert werden.
Das Stadion wird dennoch irgendwann 90 000 Sitzplätze, 2618 Toiletten, 688 Getränkeläden und 30 Fahrstühle besitzen. 14 000 Sitzplätze werden für zahlungskräftige Firmenvertreter sowie betuchte Privatleute reserviert, die umgerechnet 3000 Euro pro Jahr bezahlen. Die 160 Prominenten-Logen sind noch teurer. Für sie werden bis zu 400 000 Euro pro Jahr fällig.
Das alte Wembley, 1923 eingeweiht, war zum berühmtesten Fußballstadion der Welt geworden. Die »Kirche des Fußballs«, »der heilige Rasen« oder »Hauptstadt und Herz des Fußballs« (Pele) waren nur einige Beinamen. Seine größte Stunde erlebte es aber nicht mit der Eröffnungszeremonie für die Olympischen Spiele 1948, sondern mit der bis heute strittigen Sternstunde vom Juli 1966, als England im WM-Finale gegen die Bundesrepublik ein drittes Tor schoss, das wohl keines war. England gewann 4:2, wurde zum bislang einzigen Mal Weltmeister.
Zur großen Geschichte des alten Wembley gehört freilich auch, dass es jahrzehntelang Probleme hatte, sich finanziell zu tragen. Zeitweise konnte es sich nur mit Windhundrennen über Wasser halten.
Die Sorge um die Lebensfähigkeit des neuen Stadions wird jetzt erörtert. Manche englische Hoffnung schweift dabei gen Australien: Die weiße, muschelförmige Oper von Sydney war vor ihrer Eröffnung auch ein einziges Fia...

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