Hoffnungsträgerin mit großer Klappe
Im Alter von 60 Jahren starb die SPD-Politikerin Regine Hildebrandt in Woltersdorf bei Berlin
»Det kann nich sein« hat Regine Hildebrandt oft gesagt, wenn ihr etwas Unglaubliches zu Ohren kam. Gestern morgen ist das Unglaubliche mit ihr geschehen, und uns bleibt dieser Satz. In der Nacht zum Dienstag starb die Politikerin mit 60 Jahren an Krebs.
Als Regine Hildebrandt in der vergangenen Woche am SPD-Bundesparteitag teilnimmt und bei der Abstimmung für den Parteivorstand alle Kandidaten weit hinter sich lässt, hat sich die Öffentlichkeit schon daran gewöhnt, dass die prominente Berlinerin ein bisschen anders aussieht als vor Jahren; die Perücke, die gläserne Haut, die glänzenden Augen, die tiefen Falten am Hals. Sie ist schwer krank, aber sie versteckt das nicht. Wer in ihren Terminkalender schaut, glaubt nicht, den Plan einer Frau zu sehen, die Brustoperation und Chemotherapien hinter sich hat und in deren Körper sich die Metastasen gerade anschicken, Gesundes und Lebenswilliges zu überwuchern und endgültig zu besiegen. Wer sie dann sprechen hört, vernimmt mit Erleichterung das Knattern der Wortgeschwader, die man gewöhnt ist - egal, ob man sie mag oder nicht, ob man sie für das »Maschinengewehr Gottes« oder die »Mutter Courage des Ostens« hält.»Es gibt eine Menschennähe,
die stärker ist als Parteiunterschiede«
(Rita Süßmuth)
Regine Hildebrandt wird am 26.April 1941 in Berlin geboren, macht 1959 das Abitur, studiert Biologie an der Berliner Humboldt-Universität und promoviert 1968. Viele Jahre arbeitet sie in der Pharmakologie des Volkseigenen Betriebes Berlin-Chemie, in den letzten Jahren der DDR leitet sie die Zentralstelle für Diabetes und Stoffwechselkrankheiten in Berlin. Bis zur Wende ist sie alles andere als eine öffentliche Frau. Sie arbeitet, engagiert sich in der Kirche, blickt in die Sterne, singt im Chor, heiratet ihren Jugendfreund Jörg Hildebrandt und kümmert sich um die Familie, die sich nach und nach um die Kinder Frauke, Jan und Elske erweitert. Weil diese in der Bernauer Straße in der Berliner Mitte wohnt und aus Prinzip keinen Fernseher hat, liegt es nahe, dass die Hobbyastrologin und Hobbyfotografin nicht nur in den Himmel sieht, sondern auch auf die Mauer, die seit 1961 nicht nur ihren Kiez, sondern ein ganzes Land gen Westen absperrt. Über die ärgert sie sich und will sich partout nicht gewöhnen wie so viele andere Menschen in ihrer und der nachfolgenden Generation. Ein Volk im großen Käfig? »Det kann nich sein.«
So engagiert sich Regine Hildebrandt dann auch in der DDR-Bürgerbewegung »Demokratie jetzt«. Noch im Oktober 1989, dem Gründungsmonat der Sozialdemokratischen Ost-Partei SDP, tritt sie zusammen mit ihrem Mann in diese Partei ein, die sich später in SPD umbenennt, mit der großen Schwester im Westen verschmilzt und so manchen Möchtegern-Regierer so tief in den großen Tiegel reißt, dass der niemals wieder auftaucht. Auch Regine Hildebrandt steckt herbe politische Schläge ein. In der Übergangsregierung von Lothar de Maizière wird sie Chefin des Ministeriums für Arbeit und Soziales. Gerade dieses Ressort habe doch die SPD übernehmen müssen und es wäre ja kein anderer dagewesen, erklärt sie. Ihre Bemühungen, die Wirtschafts- und Währungsunion für die DDR-Bürger sozial besser abzufedern, scheitern jedoch. »Unsere Wünsche«, berichtet sie später von den Vereinigungsverhandlungen, »wurden weitgehend abgeblockt.«
Damals, im Mai 1990 glaubt sie als Neuling in der Branche noch an ein politisches Intermezzo in ihrem Leben. Wenn alles vorbei sei, möchte sie wieder zurück in ihren Beruf, erzählt sie einem Journalisten. In diesem Sommer nimmt sie zehn Pfund ab und wird eine der bekanntesten Frauen in der DDR. Wöchentlich sieht sie Tausende DDR-Bürger in die Arbeitslosigkeit gehen und tröstet sich damit, dass »es so wie jetzt nicht weiter gehen kann«. Dennoch schließt sie sich zähneknirschend der Prognose von 6 Millionen Arbeitslosen im vereinten Deutschland an. Für sie wäre es die Grenze des Zumutbaren, erklärt sie, wenn Arbeitnehmer in der DDR wesentlich geringere Bezüge als bisher hätten oder Rentner kein würdiges Leben führen könnten. »Det kann nich sein«.
»Ich krieg immer ein bisschen Angst, wenn ich viel gelobt
werde, denn zaubern
kann ich ja nicht.
(Regine Hildebrandt 1991)
Die Koalition, deren Mitglied sie ist, zerbricht an den Auseinandersetzungen um den Einigungsvertrag und Ost-Politikerinnen und -politiker wie Regine Hildebrandt werden aus dem Westen als »Hobbypolitiker« verunglimpft. Erst wenn sie abtreten würden, könne man den Osten unterstützen, heißt es. Doch Abtreten kann eine wie sie in so einem Augenblick selbstverständlich nicht. Das hieße wohl, eine Sache nicht zu Ende zu bringen und in solchen Augenblicken erwacht die Preußin in der couragierten Ostfrau - wie sie selbst beobachtet. Sie kandidiert für den Brandenburger Landtag und wird Arbeits-, Sozial-, Gesundheits- und Frauenministerin in einer Ampelkoalition. In einem knappen Jahrzehnt rast sie ruhelos durch ihre Politikbereiche, kaum ein Kindergarten, Wohlfahrtsverband, Arbeitsamt, Altersheim oder eine Gesundheitseinrichtung im Land, die sie nicht besucht hat. Sie kann sich einfach nicht verweigern. Auf dem Wege zu großen Interviews oder Fernsehsendungen arbeitet sie ihre Akten ab, bis sie vom Produktionsassistenten nervös in die Maske gebettelt wird. Zwischendurch beißt sie in einen der Äpfel, die ein Familienmitglied fürsorglich im Dienstwagen deponierte. Sie beantwortet unzählige Briefe und hat trotzdem noch Zeit, um für Weihnachten zu backen, mit den Enkelkindern zu spielen, im Domchor zu singen und Reisen zu machen. Ihr Tag muss mehr Stunden gehabt haben als der gewöhnlicher Sterblicher, kann det sein?
Unzählige Male erzählt die Sozialpolitikerin in ihrem zweiten Leben als Prominente in Talkshows und Zeitungsgesprächen aus ihrem Leben in der DDR, immer ohne Larmoyanz und Märtyrertum, obwohl sie nicht selten befragt wird, als hätte sie mit trockenem Brot in der Jackentasche und in Strohschuhen an einer lebensgefährlichen Expedition teilgenommen. Da kommt ihr dann schon mal die Sachlichkeit abhanden und die »Berliner Schnauze« bricht sich ungestüm Bahn. Mit dem Unverständnis einiger Zeitgenossen und Politikerkollegen über ihre Spontanität und die ungewöhnliche Wortwahl kann sie von Jahr zu Jahr besser umgehen; »Ich spreche so laut, damit man mich versteht«, erklärt sie etwa. Als sie sich darüber ärgert, dass die Ost-Probleme im Westen nicht wahrgenommen werden, sagt sie: »Die Sachsen haben mir erzählt, früher hätte das Tal der Ahnungslosen in Dresden gelegen, .... diesmal liegt es in Bonn«. Nicht jeder etablierte Politiker traut es sich zu, mit der vorlauten Ministerin zusammen in einer Fernsehsendung aufzutreten. Andere wiederum, wie Norbert Blüm aus der CDU oder Lothar Bisky aus der PDS fühlen sich der Kämpferin für die sozialen Belange der Menschen verbunden. Selbst Skeptiker in den eigenen Reihen wie der Bundeskanzler bringen lange Zeit eine gewisse Unlust zum Ausdruck, der lauten Parteifreundin zuzuhören, um kurz vor dem Ende ihres Wegs zuzugeben, dass man über das nachdenke, was sie sagt. Det kann nich sein.
Hildebrandt streitet für den Erhalt der Kindergärten, verteidigt die Fristenlösung für den Schwangerschaftsabbruch ohne Zwangsberatung, will die Polikliniken und die Arbeitsförderung erhalten, macht sich gegen die Ausgrenzung der PDS stark und setzt sich für eine Verbesserung der Situation von Diabeteskranken im Land Brandenburg durch den Aufbau von Spezialzentren ein. Das alles bringt ihr Sympathien. Mit der Bürokratie nimmt sie es nicht allzu genau - vielleicht hat sie auch schlechte Berater oder einfach keine Lust, die verschlungenen Pfade der Geldaufbe-
wahrung und -verwendung öffentlicher Mittel zu beschreiten, die bundesdeutsche Gesetze ihr vorschreiben. So muss sie sich Mitte der 90er Jahre wegen der Veruntreung öffentlicher Gelder rechtfertigen, die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen ihre Mitarbeiter. Auch sie selbst gerät unter Druck, bleibt jedoch im Amt und quält sich mit steigenden Arbeitslosenzahlen und sinkender Arbeitsmarktförderung.
Nicht mit all ihren Mitarbeitern kommt Regine Hildebrandt klar. Von der streitbaren Feministin und Sozialdemokratin Ingrid Kurz-Scherf, die aus dem Saarland kam, trennt sie sich nach kurzer Zusammenarbeit, weil diese wohl ein anderes Verständnis von ihren Aufgaben hat und zu wenig »vor Ort« ist. Frauenpolitik bedeutet für die Ministerin vor allem Arbeitsplätze, hieß es später, mehr nicht. Viele Frauen im Osten mögen es ähnlich gesehen haben. Nach den Landtagswahlen 1999 plädiert sie für eine Koalition mit der PDS und verlässt die Regierung, weil sie mit den Politikinhalten der Brandenburger CDU nicht die geringste Übereinstimmung sieht und mit deren Landeschef Jörg Schöhnbohm sie ganz offenkundig aufrichtige Feindschaft verbindet. Intern soll sie die Kollegen »Arschlöcher« genannt haben. Das ist nicht fein, aber es würde zu ihr passen.
»Mein Herz schlägt links,
aber so, wie ich das verstehe«
(Regine Hildebrandt1999)
Als sie vor wenigen Wochen zur Vorstellung eines Buches über den unprofessionellen Umgang deutscher Mediziner mit der Diagnose Brustkrebs kommt, weiß sie sehr genau, wovon die Rede ist. Vehement verteidigt sie Qualitätsstandards bei der Diagnose und der Behandlung von Brustkrebs. »Für mich ist es erschreckend, dass sich der Patient den besten Spezialisten selbst raussuchen soll«, sagt sie. Sie findet es furchtbar, dass es vom Zufall abhänge, ob er den auch treffe. »Det kann nich sein.« Wenn sie dann noch vom mündigen Bürger höre, werde ihr ganz schlecht, ruft sie in den Saal. So gesehen sei die Brust ein Politikum. Während einige Frauen auf dem Podium ihr Recht auf die Mitbestimmung der Therapie verteidigen und sich Zeit nehmen wollen, um zu überlegen, wie sie mit einer so furchtbaren Diagnose umgehen wollen, plädiert sie für schnelles Reagieren. »Ich bin doch kein Kunde, der sich einen Wintermantel aussucht«, argumentiert sie. Sie streitet und hört zu, und niemand im Saal hat den Eindruck, als säße dort eine schwer kranke Frau.
Regine Hildebrandt, die sich vor einigen Jahren einen Traum erfüllte und mit der ganzen Familie zusammen in ein großes Haus nach Woltersdorf zog, wo sie morgens bei jedem Wetter in den Flatowsee sprang, hatte noch viele Termine. In einer neuen ehrenamtlichen Initiative, dem Verbundnetz Wärme, wollte sie die gegenseitige Unterstützung der Menschen populärer machen. Das Spenden-Netzwerk, ein Verband zur Förderung gemeinnütziger Einrichtungen, wartete am Montag auf der Pressekonferenz vergeblich a...
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