Die Unidad Popular musste nicht scheitern
Die Sieg-Chancen der Regierung Allende waren größer als bisher angenommen
Eine Reihe Untersuchungen junger chilenischer Historiker und mutiger Journalisten während der letzten Jahre ermöglichen einen neuen Blick auf die Ereignisse 1973. Sie analysierten Dokumente der CIA und des US-Außenministeriums, die nach Ablauf der Sperrfrist freigegeben wurden. Sie publizierten streng geheime Unterlagen des chilenischen Militärs, so zum Beispiel den Funkverkehr der put-schenden Generale am 11. September. Und sie nahmen mit einer akribischen Materialsammlung und einer großen Zahl von Interviews die Politik der KP Chiles 1973 unter die Lupe. Diese Publikationen scheinen die bisher vorherrschende Auffassung zu widerlegen, dass das tragische Ende des chilenischen Sozialismusversuchs das zwangsläufige Ergebnis eines ungünstigen nationalen und internationalen Kräfteverhältnis war. Und sie lassen den Schluss zu, dass in Chile noch 1973 die reale Möglichkeit bestand, die Gegenoffensive der Reaktion abzuwehren.
Die Unterstützung patriotischer chilenischer Militärs für die Allende-Regierung war sehr viel größer, als bisher angenommen. Viele Militärs hatten sich entschieden, im Notfall mit Waffen die Reaktion zu stoppen, darunter bekanntlich der Oberkommandierende Carlos Prats und der Luftwaffengeneral Alberto Bachelet, der Vater der jetzigen chilenischen Präsidentin. Zu den erklärten Verbündeten der chilenischen Linken gehörten aber offensichtlich auch die Generale Guillermo Pickering, Chef der Militärschulen, und Mario Sepulveda, Kommandeur der kampfstärksten Heereseinheit in Gestalt der 2. Infanteriedivision mit Standort in der Hauptstadt Santiago.Von Sepulveda wurde jetzt bekannt, dass er 1973 der Allende-Regierung vorschlug, zur Abwehr eines Putschversuchs reaktionärer Militärs Truppen seines Kommandos in Koordination mit Arbeitern des Industriegürtels der Hauptstadt einzusetzen. Ein weiterer, bisher unbekannter Fakt: Die Unteroffiziersschule des Heeres mit über 500 Kursanten und Ausbildern stand unter der Kontrolle regierungstreuer Militärs. Sie warteten noch in der Nacht vom 10. zum 11. September auf einen Ruf zur Verteidigung. Weiterhin machen die veröffentlichten Materialien deutlich: Der Staatsstreich war stümperhaft vorbereitet worden, seine Durchführung war dilettantisch. Bis in die Morgenstunden des 11. September 1973 blieb ungeklärt, wer die Führung des Umsturzes übernehmen würde. Das Schwanken Pinochets, der aus Angst um seine eigene Haut erst im letzten Moment das Kommando übernahm, hatte viele verunsichert. Die Koordination zwischen den drei Gattungen Heer, Luftwaffe und Marine funktionierte nicht. Noch am 11. September unterliefen den Putschisten mehrere schwerwiegende Schnitzer. Wichtige Heereseinheiten erhielten zwar einen Marschbefehl auf Santiago, es erfolgte jedoch keine Präzisierung des Zielortes und des Kampfauftrages.
Außerdem scheint sich zu bestätigen, dass die US-Geheimdienste und das amerikanische Militär an der Vorbereitung und Durchführung des Staatsstreiches nicht beteiligt waren. Der CIA hatte 1972/73 zwar massiv rechtsradikale und faschistische Organisationen in Chile unterstützt und die Boykottaktionen der Unternehmerverbände gegen die Allende-Regierung gesponsert. Aber CIA und andere US-Organisationen hatten sich primär auf die zivile Opposition, die großen bürgerlichen Parteien PDC und PN orientiert. Von ihnen erwarteten sie den Sturz Allendes.
Die jetzt veröffentlichen Berichte der US-Botschaft an das Außenministerium in Washington und der CIA-Residentur an die Zentrale aus dem Jahre 1973 zeigen, dass diese nur ein sehr allgemeines Bild von den Vorgängen in der chilenischen Armee hatten. Streckenweise wird ein gewisser Frust darüber erkennbar. Eine enge Zusammenarbeit zwischen den faschistischen chilenischen Militärs und den USA entwickelte sich erst drei Wochen nach dem Staatsstreich. Stolz vermeldete der Botschafter einen Durchbruch in den Beziehungen: Der Generalstabschef habe die USA offiziell um Beratung beim Aufbau von Konzentrationslagern für Regimegegner ersucht.
Die aktuellen Veröffentlichungen bezeugen weiterhin, dass die Führungen der Unidad Popular-Parteien angesichts des herannahenden Staatsstreiches wie gelähmt waren. Es lohnt sich daran zu erinnern, dass die KP Chiles Anfang der 70er Jahre nach der KP Kubas als die größte linke Partei Amerikas galt. Ihre Mitglieder waren straff organisiert und in allen gesellschaftlichen Bereichen präsent. Allen Genossen war die Gefahr eines militärischen Staatsstreiches wohl bewusst. Die Mehrheit der Parteimitglieder war fest entschlossen, die Allende-Regierung mit allen Mitteln zu verteidigen. Die Parteiführung hatte jedoch für den Ernstfall keinen Plan. Sie tat im Verlaufe des Jahres 1973 praktisch nichts, um die Partei auf einen abrupten Wechsel der Kampfbedingungen organisatorisch und materiell vorzubereiten. In ihrer Spitze war es lediglich Gladys Marin, damals Vorsitzende des Kommunistischen Jugendverbandes, die sich der Passivität widersetzte. Am 11. September 1973 erschien zwar das Zentralorgan der KP »El Siglo« unter der Schlagzeile: »Jeder auf seinen Kampfposten!« Doch das Politbüro hatte inzwischen beschlossen, dem Staatsstreich keinen Widerstand zu leisten und in die Illegalität zu gehen. Dies erreichte die Basis nicht mehr.
Klar ist heute auch: Die Einheiten der putschenden Generäle waren am 11. September so stark mit dem Sturm auf die Moneda beschäftigt, dass sie nur wenig Aufmerksamkeit den anderen potenziellen Widerstandszentren widmen konnten. Wie groß die Chancen für einen entschlossenen Widerstand selbst am Tag des Staatsstreiches noch waren, bezeugt der Funkverkehr der reaktionären Militärs. Als die Infanterie am Vormittag mit Panzerunterstützung den ersten Angriff auf den Präsidentenpalast unternahm, erhielten dessen Verteidiger (nicht mehr als 20 Personen) Unterstützung durch eine Hand voll mutiger Chilenen, die aus den umliegenden Ministerien die Angreifer aus Handfeuerwaffen beschossen. Auch ein zweiter Angriff geriet ins Kreuzfeuer und wurde von dem verängstigten Kommandeur gestoppt. Die Generale reagierten nervös. Pinochet befahl die Bombardierung der Moneda.
Der schnelle Sieg des konterrevolutionären Umsturzes war nur möglich, weil er kaum auf Gegenwehr stieß. Dabei befand sich in den Händen der Linken weiterhin die Macht der Exekutive, die sie unterstützenden Werktätigen waren organisiert und hochmotiviert.
Die zentrale Schwäche der chilenischen Linken war, dass ihre Führer eine Revolution begonnen hatten, ohne zu berücksichtigen, dass diese die Gesellschaft immens polarisieren würde. Die Entmachtung des Großkapitals und die Realisierung eines umfassenden Sozialprogramms führten zwangsläufig zur Herausbildung von zwei Lagern. Auf der einen Seite der Enthusiasmus und die Entschlossenheit der bisher Unterprivilegierten. Sie wollten - wie Quilapayun sang - »ein völlig neues Chile errichten«. Auf der anderen Seite die Angst und der Hass in den oberen und mittleren Schichten. Je deutlicher sie den ehrlichen Willen der Allende-Regierung erkannten, ihre Wahlversprechen zu verwirklichen, desto mehr wuchs ihre Entschlossenheit, die alten Verhältnisse wiederherzustellen. Dieser sich aufschaukelnde Konflikt lief auf einen radikalen Bruch hinaus. Die CIA-Beamten in Santiago erkannten das sehr viel deutlicher, als die meisten Führer der Linken Chiles.
Das dogmatische Festhalten an dem »besonderen chilenischen Weg eines friedlichen Übergangs zum Sozialismus« auf dem Boden der Verfassung war tödlich. Denn die Reaktion hatte mit individuellem Terror und Verschwörungen spätestens 1972 den Boden der Verfassung verlassen. Auch auf der anderen Seite hatte die gesellschaftliche Realität ihre Führer überholt: Als Antwort auf den Druck der Reaktion waren auf Wohngebietsebene und in Betrieben basisdemokratische Machtorgane entstanden, die den Putsch hätten vereiteln können - wenn sie dazu aufgerufen worden wären. Die Sieg-Chancen der chilenischen Revolution waren also sehr viel größer, als bisher angenommen. Umso mehr sollten deren Lehren heute von Parteien beherzigt werden, die sich als linke verstehen.
Chronik
4. September 1970: Wahlsieg der Unidad Popular (UP) mit 36,3 Prozent.
22. Oktober 1970: Die Ermordung des Oberbefehlshabers, General René Schneider, soll einen Pusch auslösen.
3. November 1970: Salvador Allende tritt das Amt des Präsidenten an.
11. Juli 1971: Das Parlament beschließt die Verstaatlichung der Kupferindustrie.
April 1972: Die Aufteilung des Großgrundbesitzes ist beendet
Oktober 1972: Unternehmerboykott gegen die UP.
November 1972: Aufnahme von Militärs in die UP-Regierung.
4. März 1973: Die UP erreicht bei den Parlamentswahlen 44 Prozent der Stimmen.
29. Juni 1973: Putschversuch.
Juli/August 1973: Erneuter Unternehmerboykott.
11. September 1973: Putsch und Ermordung Allendes.
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