Stellen wir uns vor, wir sitzen im gespenstisch vergangenen Leipziger Hörsaal 40 und erleben den Auftritt von Ernst Bloch, Martin Heidegger, Papst Benedikt, Georg Lukács, Hannah Arendt, Rosa Luxemburg. Sie sind die Hauptdarsteller eines Sechspersonen-Stücks, das Anfang 1957 mit der Entfernung Blochs von der Universität beginnt.
Bisher wurde übersehen, dass das Ende Blochs in Leipzig das endgültige Aus jener internationalen Volksfrontpolitik bedeutet, die mit dem Pariser Kongreß 1936 begann. Bloch war einer der intellektuellen Gründungsväter. Sein Buch »Erbschaft dieser Zeit«, 1935 in Zürich erschienen, enthält seine Volksfrontphilosophie. Er lehnte die Diktatur des Proletariats als misslungen ab, hielt die 11. Feuerbach-These für mindestens unzureichend interpretiert, favorisierte seit 1935 eine Gramsci-nahe kulturelle Hegemonie mit antidiktatorischen Akzenten, verwarf das Dogma vom »wissenschaftlichen Sozialismus« und entwickelte seine eigene Existenz- und Subjektphilosophie. Alle diese Abweichungen sind im Erbschaftsbuch enthalten, das folgerichtig in der DDR nie erscheinen konnte.
In der DDR wirkte Bloch dennoch als oppositionelles Kraftwerk, dessen Energien Mitte der fünfziger Jahre ausstrahlten auf Harich, Janka, Kantorowicz, Huchel, auf Just, Zöger sowie Behrens mit seiner oppositionellen Theorie einer fehlenden sozialistischen Ökonomie. Die Spuren von Behrens reichen bis ins heutige kapitalkommunistische China. Das ist die eine Frontstellung.
Die zweite ergibt sich, als Bloch 1961 von Leipzig nach Tübingen kommt, was dort den jungen Theologieprofessor Joseph Ratzinger über die Maßen irritiert. Später bemerkt er darüber: »Ernst Bloch lehrte nun in Tübingen und machte Heidegger als kleinen Bourgeois verächtlich.« Ratzinger erkennt in Bloch eine »marxistische Versuchung«, weshalb der Kampf für das von »existentialistischer Reduktion bedrohte Christentum« aufgenommen werden müsse. Der Theologe floh vor dem Philosophen bis nach Rom, wurde Oberzensor und taufte sich später in Benedikt um. Damit heißt der Konflikt nicht mehr Stalin-Bloch, sondern Bloch-Heidegger, den Ratzinger fürsorglich in Schutz nahm. Tatsächlich ist Blochs Hauptwerk gegen Heidegger gerichtet wie »Erbschaft dieser Zeit« gegen Hitlerdeutschland gerichtet war. An Heidegger scheiden sich die Geister. Lukács sah in ihm einen rechtshändigen Antipoden, Adorno verabscheute den »Jargon der Eigentlichkeit«. Der ältere Bloch konzedierte, immerhin rieche es bei Heidegger »stellenweise nach Philosophie«. Hannah Arendt wird ein gewisser Einfluss auf Heideggers Hauptwerk »Sein und Zeit« zugesprochen. Ab 1933 zählt sie zu den rassisch Verfolgten und Heidegger tritt in die Hitler-Partei ein, um den Führer philosophisch zu führen, was misslingt. 1935 schwärmt er von der »inneren Wahrheit und Größe des Nationalsozialismus«, den er 1953 bei der Neuauflage seiner alten Vorlesungen zur bloßen »Bewegung« herunterdefiniert. In den 50er Jahren erscheinen Arendts Bücher im Münchner Piper-Verlag. Der Verlagsleiter und Cheflektor Dr. Hans Rößner reinigt sie von anstößigen sozialistischen Stellen. Der vorherige SS-Obersturmbannführer hat im Reichssicherheitshauptamt Tür an Tür mit Eichmann residiert.
Damit kommen wir nach Dresden, wo seit 1993 ein staatliches und stattliches Hannah-Arendt-Institut existiert. Ein Ernst-Bloch-Institut gab es offiziell nirgendwo. Inoffiziell wurde es dreimal verhindert: 1957 in Leipzig, 1977 in Tübingen und 1990 nochmals in Leipzig. Ich finde, ein Arendt-Institut in Dresden ohne ein Bloch-Institut in Leipzig ist nur ein halbes Sachsen. Der Nachkriegseinfluss der Frankfurter Kritischen Schule von Adorno und Horkheimer und der revolutionären Schulen von Lukács und Bloch wurde inzwischen auf Null gefahren durch eine konservative Heidegger-Klientel zur Rettung aus bourgeoisen Faschismusfallen.
Bloch und Heidegger sind Antipoden, Bloch und Hannah Arendt sind es nicht. Beide sind deutsch-jüdische Antifaschisten und lebten unter vielfacher Verfolgung. Blochs Prinzip Hoffnung wird ebenso verflacht, wo nicht verfälscht wie Arendts Totalitarismustheorie, die anfangs sehr umstritten war, weil sie auf Gleichsetzung von Hitler und Stalin ergo Faschismus-Nazismus und Kommunismus-Marxismus hinauslief. Das Dresdner Institut spitzt das noch zu, indem das Hitler-Reich mit der DDR ver-glichen und damit bagatellisiert wird. In der Satzung des Hannah-Arendt-Instituts wird »empirische Diktaturforschung in theoriebildender Absicht« verlangt, und: »Ein Schwerpunkt liegt auf der Darstellung der Geschichte Sachsens in zwei aufeinanderfolgenden Diktaturen ... « Der Dresdner Historiker Horst Schneider erhielt auf Anfrage vom Institut immerhin die ehrliche Antwort, Arendt habe sich »nicht konkret mit der DDR befaßt ... auch war die von ihr vertretene Totalitarismustheorie nicht auf das System der DDR bezogen«.
Ich frage mich, weshalb dann ein Arendt-Institut, aber keines für Bloch, der durchaus DDR-bezogen zwölf Jahre in Leipzig lehrte. Sein Werk ist bedenkenswert wie das von Arendt, das übrigens seit vier Jahrzehnten zu unseren Quellen gehört. Zumal Arendt auch vor den Gefahren eines antikommunistischen Totalitarismus warnt. Was aber geschieht in Dresden? Dort verurteilte Lothar Fritze ausgerechnet den Hitler-Attentäter Georg Elser, weil dessen Bombe im Bürgerbräukeller moralisch nicht gerechtfertigt gewesen sei. Die neueste Erkenntnis des Instituts, dass die Dresdner Bank eine SS-Bank war, stand schon im OMGUS-Bericht der US-Militärbehörde.
Arendt unterschied scharf zwischen Diktatur und Totalitarismus. Den sowjetischen grenzte sie ausdrücklich auf die Zeit von 1929/30 bis zu Stalins Tod 1953 ein. Marx und Lenin wurden von ihr nicht verworfen, für Rosa Luxemburg bezeugte sie Nähe und Sympathie. »Die arme Rosa! Nun ist sie bald 40 Jahre tot und fällt immer noch zwischen alle Stühle«, bemerkte sie, nachdem Rößner sie davon abgehalten hat, ein Buch über die Ungarn 1956 Rosa zu widmen.
Als Mitglied im Verteidigungsausschuss des Bonner Bundestages verwunderte mich, dass die vom Arendt-Institut beratene Sächsische Landesregierung unter Biedenkopf sowohl gegen unsere Rehabilitierungsanträge für Wehrmachtsdeserteure wie gegen den höchstrichterlichen Freispruch des Tucholsky-Wortes »Soldaten sind Mörder« Protest einlegte. Da dreht sich Hannah Arendt im Grabe um, zusammen mit Kurt Tucholsky im fernen Mariefred.
Ludwig Baumann, Gründer der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz, saß als verurteilter Deserteur monatelang in der Torgauer Todeszelle und berichtet heute von skandalösen Konflikten in der »Stiftung Sächsische Gedenkstätten«, deren Sitzungen er wie auch der Zentralrat der Juden aus Protest fernbleibt, weil er Nazi-Opfer und Nazi-Täter in diesen Erinnerungsorten bis zur Ununterscheidbarkeit vereinnahmt sieht. Im »Roten Ochsen«, der Gedenkstätte in Halle/Saale, gibt es keinen Streit, die Verbände vom Jüdischen Zentralrat bis zu den Deserteuren und Opfern des Stalinismus einigten sich. Im sächsischen Torgau jedoch regiert die Dresdner Totalitarismus-Linie. Das Reichskriegsgericht, 1943 vor den Bomben in Berlin nach Torgau geflüchtet, hauste dort als gesetzlich lizensierte Mörderbande. Dresden will in der Torgauer Gedenkstätte nicht, wie es in Halle geschieht, die Hingerichteten von den Hinrichtern scheiden. Berät das Hannah-Arendt-Institut die Landesregierung?
Es tut mir leid, ich muss da eher an ein Heidegger-Institut denken. Ernst Nolte, der den Archipel Gulag für ursprünglicher hält als Auschwitz, schreibt über Heidegger: »Sofern er dem großen Lösungsversuch (der Kommunismus) Widerstand leistete, war Heidegger - wie zahllose andere - im historischen Recht ... er wurde vielleicht zum Faschisten, aber er geriet deshalb keineswegs von vornherein ins historische Unrecht.«
Ich fürchte, hierzulande wird gegen Bloch und mit Heidegger Arendts Totalitarismustheorie ideologisch missbraucht. Wer nicht nur zwischen Hitlers und Stalins Diktatur, sondern zwischen Hitlers Reich und DDR vergleicht, bagatellisiert den Faschismus. Wir erinnern dagegen an unsere zahlreichen vergessen gemachten antifaschistischen Widerständler, ohne Stalins Opfer zu missachten.
Sachsen stand als Land der Industrialisierung und Arbeiterbewegung an der Spitze Europas, was den erheblichen Widerstand gegen die Nazis plausibel macht. Im Pleißen- und Muldenland bildete sich schon im Sommer 1933 eine Widerstandsgruppe. Als sie aufflog, gab es über 150 Verhaftungen. Der aktivste war Alfred Eickworth, der 1943 in Griechenland desertierte und beim Schusswechsel mit Wehrmachtsoldaten tödlich verletzt wurde. In meinem Geburtsort (Gablenz) setzte man ihm ein Denkmal und benannte eine Straße nach ihm. Zur Wende 1990 verschwanden Denkmal und Benennung. Diktaturvergleich? Das ist ein Vergleich DDR-BRD.
Die Friedhöfe sind angefüllt mit ermordeten Widerständlern. Wie und was will das Dresdner Institut vergleichen, wird das zu Vergleichende ignoriert?
Mit Hilfe der Rosa-Luxemburg-Stiftung legte Jutta Seidel die Schrift »Das große Dilemma - Leipziger Antifaschisten in der SS-Sturmbrigade Dirlewanger« sowie die Häftlingsbiografie »Paul Nette ... daß mir weiter nichts fehlt als die Freiheit« vor. Drei Bücher von Günter Hauthal über den Widerstand im sächsisch-thüringischen Grenzgebiet sind im Altenburger S. Sell Heimat-Verlag erschienen. Das sind private Beispiele. Ein Institut für Diktaturforschung sollte die Initiativen ermuntern und sammeln, wenn es zu fairen Resultaten gelangen will.
Für einen Diktaturvergleich sind wir gerüstet, unsere Leipziger Lehrer waren Koryphäen ihrer Fächer und dazu noch im Exil, in Lagern und Zuchthäusern aufrechte, leidgeprüfte Antifaschisten. Um Namen zu nennen: Heinz Zöger, geboren in Leipzig, 1933 neun Monate in Bautzen, 1941 viereinhalb Jahre Zuchthaus Waldheim und Halle, 1957 zweieinhalb Jahre Haft. Nach der Entlassung stand er in Kasbach am Rhein bei uns vor der Tür und lebte eine Zeitlang in unserer Wohnung. Walter Janka, geboren in Chemnitz, 1933 eingesperrt in Bautzen und im KZ Sachsenburg, 1957 zu fünf Jahren verurteilt. Leo Bauer, in Sachsen aufgewachsen, 1933 inhaftiert, 1952 in Ostberlin vom sowjetischen Tribunal zum Tode verurteilt, zu 25 Jahren Gulag begnadigt. Werner Krauss, 1942 Todesurteil, ermäßigt zu fünf Jahren in Torgau, ab 1947 Professor in Leipzig. Walter Markov, 1936 bis 1945 Zuchthaus in Sieburg, von 1949 an Professur in Leipzig, 1951 Parteiausschluss wegen Titoismus. Für die Jüngeren nenne ich stellvertretend die Literaturwissenschaftler Ralf Schröder, zehn Jahre Zuchthaus, und Winfried Schröder, der mit drei Jahren davonkam.
Wir haben keinen Grund, uns im Diktaturvergleich von Einäugigen belehren zu lassen.
Im Juni 44 hörte ich, daheim auf Fronturlaub, vom Schicksal des desertierten Alfred Eickworth, der von deutschen Soldaten getötet wurde. Ich hatte Glück und kriegte bei der Flucht zu den Sowjets nur ein paar Granatsplitter ins Bein. Das war die Alternative - entweder man ging zur Roten Armee und warnte mit dem Nationalkomitee Freies Deutschland vor der Fortsetzung des Krieges oder die Rote Armee drang bis zu uns vor.
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