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Das betrogene Volk

Die Ukraine leidet an den Folgen der EM 2012, viele hoffen auf die WM 2014

  • Frank Hellmann und Nina Jeglinski, Kiew
  • Lesedauer: 5 Min.
Seit der EM 2012 hat das Nationalteam der Ukraine Fortschritte gemacht und hofft auf eine zweite WM-Teilnahme nach 2006. Das Land aber hat sich seit dem Fußball-Großereignis eher rückwärts entwickelt.

Anfang der Woche haben sich die Menschen in der Ukraine kräftig gewundert. Kletterte das Thermometer in der Hauptstadt Kiew doch bis in den zweistelligen Bereich, und sogar der zu dieser Jahreszeit besonders zähe Hochnebel war plötzlich verschwunden. Oft beginnt im November die erste Schnee- und Eisdecke das Leben zu ersticken, aber offenbar gibt sich der Winter wohl so gnädig, das Fußballspiel des Jahres mit seiner Aufwartung zu verschonen. Die Playoff-Partie zur WM-Endrunde zwischen der Ukraine und Frankreich wird am Freitag auf jeden Fall bei Plusgraden stattfinden und das anlässlich der EM 2012 entworfene Kiewer Olympiastadion mit seiner futuristischen Dachkonstruktion bis auf den letzten Platz gefüllt sein. 70 000 Ukrainer werden enthusiastisch ihre Elf nach vorne peitschen.

Unweigerlich keimen damit wieder Erinnerungen an den Sommer vergangenen Jahres auf. Damals, als zwischen Majdan, dem Unabhängigkeitsplatz, und Chreschtschatyk, dem Prachtboulevard, die größte Fanmeile der EM überhaupt stand und an den Gebäuden aus Stalin-Zeiten Dutzende von Leinwänden hingen. 100 000 Leute kamen hier zusammen, als Elton John und Queen zu Turnierende ein Charity-Konzert gaben, und durch die Metropole mit seinen prächtigen Zuckerbäckerbauten dröhnte die Hymne »We are the champions«. Doch in Wahrheit ist die ukrainische Bevölkerung als Verlierer zurückgeblieben, und mehr denn je wirkt das Fußballfest von damals wie eine Fata Morgana.

Das Turnier hat es nicht geschafft, die Ukraine als Tourismusziel interessant zu machen. Schlimmer noch: Die Schulden, die durch die teils sündhaft überteuerten EM-Vorbereitungen entstanden sind, werden in der Rückschau auf bis zu 20 Milliarden Euro beziffert. Das Haushaltsloch 2013 ist riesig, die Korruption blüht, das Vertrauen schwindet. Gerade meldete die seriöse Wirtschaftszeitung »Kommersant«, dass die liquiden Mittel fast aufgebraucht seien. Die Ukraine bekommt auf dem freien Kapitalmarkt keine Kredite mehr; die Rating-Agentur Fitch hat das Land vergangenen Freitag erneut abgestuft, von »B« auf »-B« Ausblick »negativ«; die Nationalbank hat begonnen, Geld zu drucken.

Wie 1998 und 2008, als in dem Land bereits einmal die Rentenkasse zusammengebrochen war, und der Ruin nur durch einen Sofortkredit des Internationalen Währungsfond IWF verhindert werden konnte, steuert die Ukraine erneut auf ein solches Szenario zu. Viele der 45 Millionen Einwohner haben sich in ihren privaten Nischen verkrochen, daher kommt das Kräftemessen gegen die Grande Nation gerade recht, das betrogene Volk zumindest vor dem heimischen Fernseher zusammenholen. Seit Tagen wird in Endlosschleifen der staatlichen TV-Anstalten über die Partien gegen den angehenden Weltfußballer Franck Ribery palavert.

Erst einmal - 2006 in Deutschland - hat die Ukraine seit der Unabhängigkeit 1991 an einer WM-Endrunde teilhaben dürfen. Zu wenig für eine früher stilprägende Fußballregion, an deren Weltruf einst auch der neue Nationaltrainer Michail Fomenko mitgewirkt hat. In jener sagenhaften Elf von Dynamo Kiew, die unter der Ägide von Waleri Lobanowski 1975 den Supercup gegen den FC Bayern gewann, spielte Fomenko als Verteidiger, während Linksaußen Oleg Blochin sogar Franz Beckenbauer zu düpieren wusste. Blochin und Fomenko besetzen als Trainer im ukrainischen Fußball bis heute noch Schlüsselrollen. Blochin dient aktuell wieder bei Dynamo Kiew als Chefcoach, nachdem der inzwischen 61-Jährige vor einem Jahr seinen Job als Nationaltrainer verlor. Eine Weiterentwicklung brachte der vor dem Jahreswechsel installierte Fomenko in Gang.

Die frostige Atmosphäre in der Kabine gehört seitdem der Vergangenheit an. Der 64-Jährige kämmt das graue Haar zwar wie der von einer schweren Erkrankung gezeichnete Blochin gerne streng zurück, doch er gibt mitnichten nur den Schleifer alter sowjetischer Schule. Feingeister wie Flügelstürmer Andrej Jarmolenko dürfen sich unter Fomenko entfalten. Dennoch fordert dieser Fußballlehrer viel: Jedes Spiel sei wie das letzte, lautet einer seiner Leitsprüche. Damit kitzelt der Lobanowski-Lehrling vor allem die in der Heimat verhätschelten Jungstars.

In den zehn Länderspielen seiner Amtszeit ist die Ukraine ungeschlagen. Polen, der zweite Ausrichter der EM 2012, blieb in der WM-Qualifikation klar auf der Strecke, während die Ukraine nur einen Punkt hinter England landete. »Wir haben uns verbessert«, findet Rekordnationalspieler und Ex-Bayernprofi Anatoli Timoschtschuk. Der zu Zenit St. Petersburg zurückgekehrte 34-Jährige besitzt allerdings keinen Stammplatz mehr. Fomenko vertraut - genau wie Blochin - gerne den gut ausgebildeten Akteuren seines Heimatvereins, obwohl Dynamo Kiew in der heimischen Premjer-Liha gerade nur Platz fünf belegt. Doch Klubpatron Igor Surkis garantiert heimischen Kräften immerhin regelmäßige Spielpraxis, während die mit Oligarchen-Geldern geförderten Spitzenklubs Schachtjor Donezk und Metalist Charkow lieber im großen Stil Legionäre einsetzen.

Charkow taugt auch als gutes Beispiel für die teils mafiösen Strukturen im ukrainischen Fußball, der eng mit den Interessen von Wirtschaft, Politik und Staatsmacht verwoben ist. Weihnachten 2012 musste Klubbesitzer und Oligarch Alexander Jaroslawski, Spitzname »König von Charkow«, überraschend sein Lieblingsspielzeug verkaufen, weil massiver Druck auf ihn ausgeübt wurde. Seitdem leitet der erst 28-jährige Energieunternehmer Sergej Kurtschenko, ein guter Freund des Staatspräsidenten Alexander Janukowitsch, den von der UEFA von allen Europapokalwettbewerben ausgeschlossenen Tabellenzweiten.

Der pro-westlich orientierte Jaroslawski war es aber, der für umgerechnet fast eine halbe Milliarde Euro vor der EM überhaupt das Stadion, den Flughafen und neue Hotels spendierte. Sonst wäre gar nicht in jener Stadt gespielt worden, in der in einer eigens eingerichteten Zelle im staatlichen Krankenhaus der Eisenbahner unweit des Stadions immer noch die ukrainische Oppositionsführerin Julia Timoschenko inhaftiert ist und deren Anwalt nun sogar der Reisepass abgenommen wurde. Für die EU ein Desaster. Timoschenko dürfte nicht die einzige Gefangene des Systems Janukowitschs bleiben. Jeder, der sich gegen den autoritären Präsidenten stellt, landet im Abseits eines zerrissenen Staates, der sich trotz einer ausgerichteten Fußball-EM gerade immer weiter von Europa entfernt.

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