Nich’ ßum Vajnüjen untawegs

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 3 Min.

Auf dem Bahnsteig des Neuköllner U-Bahnhofs Karl-Marx-Straße, den man erstaunlicherweise vor über 20 Jahren vergessen hat, in U-Bahnhof Eberhard-Diepgen-Straße umzubenennen, streifen zwei sich allem Anschein nach langweilende Angestellte des sogenannten Sicherheitsdienstes der Berliner Verkehrsbetriebe umher. Es ist kurz nach Mitternacht. Offenbar sind sie auf der Suche nach einem leichten Opfer, einem Menschen, den sie dafür anbrüllen und piesacken können, dass er unerlaubterweise seine müden Beine auf einem der zum Sitzen oder Kauern völlig ungeeigneten Metallgestelle abgelegt hat, sich heimlich entspannt oder gar in bösartiger Absicht ein Kaugummieinwickelpapierchen fallen lässt.

Also schreien sie, weil gerade kein anderer da ist, in ungehobelter Weise das faltige, kleine Männlein an, das 20 Meter entfernt von mir auf einer Bank eingenickt ist. »He, Freundchen! Dit is’ hia keen Freizeitpaak!«

Die beiden uniformierten BVG-Schergen - anhand ihrer Umgangsformen und ihres auf geistige Windstille hinweisenden Mondkalbgesichtsausdruckes sofort als Vertreter jener Sorte Mensch erkennbar, die ohne nachzudenken alles tut, was ihr gesagt wird - sprechen mit dem anfangs verstört und orientierungslos wirkenden Großväterchen, das da auf der Bank eingeschlafen war, als handle es sich bei ihm nicht um ein menschliches Wesen, sondern um eine Art dreidimensionalen Schmutzfleck. Darin besteht der Job der breitbeinig herumstolzierenden Hilfssheriffs, die ihr Walkie-Talkie bisweilen drohend hin- und herschwenken wie eine Keule: eine Atmosphäre der Angst zu erzeugen, Menschen zu kujonieren und zu demütigen, die noch nicht vollständig eingenormt sind in die verwaltete Welt oder noch störrisch genug, die Teilnahme an der totalen Betriebsamkeit zu verweigern. Menschen wie den erwähnten älteren Herrn, der eine recht zerfledderte Ausgabe der »Deutschen Ideologie« von Karl Marx auf seinem Schoß liegen hat und der von den beiden Wachmännern ohne erkennbaren Grund zum Verlassen des Bahnhofs aufgefordert und obendrein geduzt wird.

»Alta, hia kannste nich’ schlafn! Mach ma’ hinne!«

»›Wer von sei’m Tach nich’ zwee Drittel für sich selbst hat, is’ n Sklave‹, sacht Nietzsche. Kennse den, den Nietzsche? Oder den Kalle Marx?«, erwidert der Angeschriene schüchtern und zeigt mit dem Finger auf das Schild, das den Namen des U-Bahnhofs ausweist. »Schon der Dichta Thomas Mann hat ...«

Doch noch bevor das angetrunkene Männlein seine Erörterungen fortsetzen und seine Peiniger über die Nietzsche-Rezeption des Literaturnobelpreisträgers in Kenntnis setzen oder gar berühmte Stellen aus dem »Zauberberg« oder der »Geburt der Tragödie« rezitieren kann, wird ihm seine Bierflasche aus der Hand genommen. Dann wird es rüde zurechtgewiesen: »Wat redste da für jeschwoll’net Zeuch? Jetz’ mach ma’ halblang hier. Wir sind hier nich’ ßu unsam Vajnüjen untawegs. Jetzt is’ Feiaahmd hia! Abmarsch jetze! Zackzack!«

Der solcherart Angegangene könnte auf einen Zug warten, kein Obdach haben oder tatsächlich zu seinem Vergnügen hier sitzen. Um ein wenig seinen Gedanken nachzuhängen, sich einen Schluck Bier einzuverleiben, ein wenig über die Junghegelianer zu sinnieren, ein wenig zu dösen. Solcherlei Treiben und aggressives Plappern von jeschwoll’nem Zeuch aber ist auf einem U-Bahnhof der Weltkulturhauptstadt Berlin nicht vorgesehen, nicht gestattet, nicht marktkonform, nicht vereinbar mit den Beförderungsbedingungen der BVG. »Berlin ist mehr ein Weltteil als eine Stadt«, wie der Dichter Jean Paul es einmal treffend formuliert hat, und man ahnt, was er damit gemeint haben könnte. Anders gesagt: Wir sind hia nich’ ßu unsam Vajnüjen untawegs. In Berlin zu leben hat Arbeit, Knechtschaft und Verdruss zu sein. Ein U-Bahnsteig ist kein Vorlesungssaal, kein Aufenthaltsraum für Literaturschwatzbudenbetreiber, Philosophie-Penner und andere Störer, die meinen, sie müssten Nietzsche zitieren und damit unschuldige Wachschutzleute provozieren. Wäre ja noch schöner, wo kämen wir denn da hin?

»Dit Bewusstsein is’ keene präexistente Katejorie«, sagt der Mann noch. Dann schleifen ihn die sogenannten Sicherheitsdienstler unsanft die Treppe hoch, und er ist nicht mehr zu verstehen.

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