Terrorakt eiligst ausgeschlossen
Tatarstan-Flug U9-363 zerschellte auf dem Kasaner Airport - es gibt keine Überlebenden, aber viele Fragen
Das Wetter sei mit plus drei Grad Celsius und leichtem Wind problemlos gewesen. Die Sicht betrug 5000 Meter, die Landebahn war trocken. Bessere Bedingungen für eine normale Landung gebe es kaum, sagte ein Flughafensprecher in Kasan, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Tatarstan. Andere Angaben besagen, Schneeregen habe die Sicht bis auf 250 Meter gemindert. Wie auch immer - keiner der 44 Passagiere und sechs Besatzungsmitglieder der Boeing überlebte das Unglück.
Flug U9-363 war auf dem Moskauer Flughafen Domodedowo gestartet. Bis Kasan sind es nur rund 800 Kilometer. Kurz nach 19 Uhr Ortszeit meldete sich der Pilot beim Tower. Sein erster Landeanflug missglückte. Beim zweiten Versuch gegen 16.25 Uhr MEZ berührte eine Tragfläche den Boden. Andere Augenzeugen beschwören, dass die Maschine zuerst mit dem Bug aufgekommen sei. Sicher ist, das Flugzeug zerlegte sich und fing Feuer. Mehrere Explosionen folgten.
Die Piloten seien erfahren gewesen, hört man. Trotzdem könne ein menschlicher Fehler nicht ausgeschlossen werden, schränkte die Polizei der Wolga-Stadt ein. Man werde gemeinsam mit aus den USA angeforderten Fachleuten alle möglichen Ursachen in Betracht ziehen, doch sei es wahrscheinlich, dass Technik versagt habe. So wird Alexander Poltinin, einer der zuständigen Unfallexperten, in verschiedenen russischen Medien zitiert. Genauere Informationen soll die Auswertung der Blackboxes bringen. Sowohl der Flugdaten- wie der Sprachrekorder sind gefunden worden. Zudem habe man umgehend alle Unterlagen der Luftfahrtgesellschaft »Tatarstan« beschlagnahmt, die Auskunft zur Besatzung und dem technischen Zustand des Flugzeuges geben können.
Die Unfall-Boeing 737-500 mit dem Kenner VQ-BBN ist nicht gerade das, was man einen modernen Jet nennen kann. Sie hatte am 18. Juni 1990 ihren Erstflug und gehört damit zu den ersten gebauten Flugzeugen der 500er Reihe. Die Produktion dieser Serie endete nach 360 gebauten Flugzeugen im Jahr 1999.
Bevor die in den USA gebaute Maschine von der 1993 gegründeten Fluglinie »Tatarstan« übernommen wurde, hatte sie bereits sechs Vorbesitzer und Heimatflughäfen in Frankreich, Uganda, Brasilien, Rumänien und Bulgarien. Die »Tatarstan« betreibt noch eine Boeing 737-400, vier Airbus A 319 und hat zwei Tupolew Tu-154 im Bestand. Die Unglücks-Boeing hat angeblich bereits mehrmals Probleme bereitet. So habe sie auf dem Kasaner Airport schon einmal wegen defekter Sensoren notlanden müssen. Eine Journalistin, die am Vortag mit der Maschine geflogen war, berichtete im Fernsehen von »unglaublichen Vibrationen«. In Medien hört man, dass ein anderes Flugzeug der Gesellschaft 2010 ein Teil des Fahrgestells verloren hat.
Die Airline scheint nicht gerade auf wirtschaftlich stabilem Kurs zu sein. Im September streikten die Beschäftigten wegen ausstehender Lohnzahlungen und der Flughafen von Kasan beklagt, die Airline nehme es mit dem Begleichen vertraglich vereinbarter Wartungskosten nicht so genau.
Natürlich kann man beim derzeitigen Stand der Ermittlungen auch noch über die Möglichkeit von Sabotage spekulieren. Immerhin: Unter den Opfern ist Irek Minnichanow. Er ist der 23-jährige Sohn des Chefs der russischen Teilrepublik Tatarstan, Rustam Minnichanow. Mit an Bord war auch ein Generalleutnant Alexander Antonow. Seit Juni 2011 hat der den Inlandsgeheimdienst FSB in Tatarstan befehligt. Doch angesichts der bevorstehenden Olympischen Spiele in Sotschi will man in Russland und seinen Satellitenstaaten natürlich keine zusätzlichen Debatten über die Möglichkeit verschiedenster Terroranschläge entfachen.
Die gibt es ohnehin. Vor knapp einem Monat hatte eine 30-jährige Frau in einem Wolgograder Linienbus - Wolgograd liegt rund 1000 Kilometer südlich von Kasan - einen Sprengsatz gezündet. Sechs Passagiere und die Attentäterin kamen ums Leben. Mehr als 30 Menschen erlitten Verletzungen. Am Samstag erstürmten Sicherheitskräfte ein Haus unweit der dagestanischen Hauptstadt Machatschkala, wo sich der Lebensgefährte der Terroristin verbarrikadiert hatte.
Doch insgesamt müsse man sich nicht ängstigen, teilten die russischen Innenbehörden vor wenigen Tagen mit. Dank der gemeinsamen Bemühungen des Innenministeriums und des Föderalen Sicherheitsdienstes sei die Anzahl der Terroranschläge in den zurückliegenden drei Jahren um die Hälfte zurückgegangen.
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