Ein Gleis ins Nichts
Von der Friedhofsbahn zwischen Wannsee und Stahnsdorf ist heute nur noch wenig zu sehen
Schüsse knallen durchs Revier Dreilinden und geben dem Wort »Totenbahn« einen neuen, bedrohlichen Klang. Jäger sind unterwegs und erschrecken die kleine Wandergruppe, die auf ihrem beschwerlichen Weg über die Schotterpiste läuft. In den ausgedehnten Wäldern südwestlich von Berlin gibt es viel Wild, schnurgerade nach Süden liegt ein Gleisbett zwischen den Bäumen. Wir befinden uns auf der seit 1961 stillgelegten Strecke der Friedhofsbahn.
Zu Beginn des vorigen Jahrhunderts platzte Berlin aus allen Nähten. Größer, schneller, die Stadt raste von einem Rekord zum nächsten, dem Platzbedarf mussten selbst die Toten weichen. Die Begräbnisflächen wurden knapp, der Berliner Stadtsynodalverband erwarb um die Jahrhundertwende Grundstücke außerhalb der Stadtgrenzen. 1908 wurde der Ostkirchhof in Ahrensfelde eröffnet, ein Jahr später folgte der Südwestkirchhof in Stahnsdorf. Mit 206 Hektar Fläche ist dieser heute der zweitgrößte Friedhof Deutschlands nach Hamburg-Ohlsdorf.
Die Särge und die Trauernden wurden mit Automobilen nach Stahnsdorf gebracht. Der stetig zunehmende Verkehr überforderte den kleinen Ort schon bald. Für die Kirchengemeinden waren die Kosten für die vielen Fahrten schnell zu hoch. Der Gedanke einer eigenen Bahnverbindung von Wannsee kam auf und wurde auch verwirklicht: Am 2. Juni 1913 wurde die 4,24 Kilometer lange eingleisige Strecke eröffnet. Die Berliner Stadtsynode finanzierte den Kauf der nötigen Grundstücke sowie den Bau der Strecke mit insgesamt 1,28 Millionen Reichsmark, die Königlich-Preußische Eisenbahnverwaltung verpflichtete sich zum Betrieb der Strecke. An der Strecke nach Stahnsdorf sollte noch ein Haltepunkt mitten im Nirgendwo entstehen, der Haltepunkt Dreilinden, die verkaufenden Grundstücksbesitzer erhofften sich Erholung suchende Berliner in dem Waldgebiet.
Dreilinden an der heute überwucherten Bahnsteigkante. Nicht einmal mehr Gleise, nur der Schotter lässt die einstige Strecke erahnen. Im ehemaligen Niemandsland unter der Brücke des Königsweges liegen noch ein paar Meter verrostete Schienen und vermoderte Schwellen. Genau am ehemaligen Todesstreifen zwischen Westberlin und der DDR das letzte Lebenszeichen der Bahn. Von Ostseite wurde sie schnell demontiert, in Westberlin wurde ab Mitte der 80er Jahre alles abgebaut, was beim Schrotthandel noch Geld brachte. Pietät hört spätestens bei Preisen auf, und seien es nur die für Kupfer und Stahl.
»Sind die Toten wirklich S-Bahn gefahren?« Neugierig fragt die jüngste Wanderin die beiden Wanderführer Ulrike Otto und Matthias Sauer. Die beiden räumen geduldig mit Legenden auf: Nein, die lebenden und die toten Fahrgäste wurden strikt getrennt. Während die Trauernden in Personenzügen fuhren, gab es für die Toten spezielle Güterzüge.
Von der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Leichenhalle Halensee wurden die Särge in Güterzügen nach Wannsee gefahren, von dort mit eigenen Zugläufen einmal am Tag bis zum Bahnhof Stahnsdorf. Zum Friedhof musste nur der Heuweg überquert werden. Die Strecke wurde schnell zum Erfolg: Schon am Totensonntag 1913 fuhren 3870 Fahrgäste nach Stahnsdorf. 1928 wurde die Strecke an das Berliner S-Bahn-Netz angeschlossen.
Ursprünglich war sogar geplant, die Gleise bis zur Friedhofskapelle zu verlegen, »um Leichen und Trauergefolge gleich in den Schwerpunkt des Friedhofs hineinzubefördern«, wie es im Amtsdeutsch des Zentralblatts der Bauverwaltung vom Oktober 1914 heißt. Da hatte das deutsch entfesselte Sterben auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges gerade begonnen und die steigenden Toten- und Fahrgastzahlen brachten der Bahn den Namen ein, der so strikt und im Verordnungston vermieden werden soll: Der Bahnhof Stahnsdorf sollte eben nicht direkt zwischen den Gräbern liegen, »um dem Friedhof nicht die Ruhe zu nehmen und auch um die Bahn nicht zu sehr als bloße Friedhofsbahn zu kennzeichnen«.
Diesen Namen wurde die nach 1961 stillgelegte Strecke nicht mehr los. »Leichenexpress« und »Witwenbahn« als Titel blieben als nur angeblich authentische zeitgenössische Berliner Schnauze. Stillgelegt bleibt die Strecke aber tatsächlich für immer, obwohl die Gemeinde Stahnsdorf ein großes Interesse am Wiederaufbau hätte: Warum nicht wieder mit der S-Bahn nach Berlin pendeln? Die Einwohnerzahl hat sich seit 1991 fast verdreifacht. Eine Klage der evangelischen Kirche auf Wiederherstellung der Strecke nach dem Einigungsvertrag wurde im Mai 2012 letztinstanzlich verworfen, die Deutsche Bahn will die rostende, aber noch bestehende Brücke über den Teltowkanal, über die am 13. August 1961 der letzte reguläre S-Bahn-Zug fuhr, im nächsten Jahr abreißen.
Wandern an einer toten Strecke: Für einige ist es ein Herbstspaziergang auf historischem Terrain, für andere bietet jedes Detail Gelegenheit zum Fachsimpeln: Ein halb vermodertes Schild wird gefunden: Ob da »Grenze« draufstand? Einschusslöcher an einem Brückenwiderlager: »Sprenggranate?« - »Nein, Panzerfaust!« Schüsse sind jetzt auf der Strecke aber nicht mehr zu hören.
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