Wunder der Verwandlung

Christoph Loy inszenierte Verdis »Falstaff« an der Deutschen Oper Berlin

  • Irene Constantin
  • Lesedauer: 4 Min.

Man fand sich im Kino wieder. Es lief ein uraltes Filmporträt über die Mailänder »Casa Verdi«. Das Zimmermädchen huscht durch die Räume, die Bewohner lauschen der Grammophonstimme von Victor Maurel, dem Uraufführungs-Falstaff.

Plötzlich sieht man sie leibhaftig, den fransenhaarigen Dicken, die staksbeinigen Alten mit ihren Umschlagtüchern, das verhuschte Krankenschwesterchen. Einer geht dem Dicken an den Kragen, was ihm einfiele, seine trübseligen Kumpane anzustiften, ihn zu beklauen. Und schon ist man mittendrin im Wirtshaus »Zum Hosenbande«, wo der Ritter Falstaff mit seinen windigen Adlaten Bardolfo und Pistola logiert.

Nachdem Dr. Cajus hinauskomplimentiert ist, nehmen Falstaff und seine Freunde Watton-Bauch und Altersheim-Perücken ab und spielen als junge Männer weiter. Der Page Robin wiederum, der Falstaffs gleichlautende Liebesbriefe an Alice Ford und Meg Page befördert, trägt ein Scala-gemäßes Kostüm mit Pluderhosen, Wams, Federhut. Die angebeteten Damen bleiben indes hartnäckig krumme Ömchen, wenn sie die inkriminierten Schriftstücke aus ihren unsäglichen Handtaschen graben. Urplötzlich jedoch huschen auch sie, noch immer im Altersheim-Dunkelblau, flinkfüßig über die Bühne, um dann gleich wieder in sich zusammenzusacken. Irgendwann kommen aber auch ihre frischen Sommerkleider zutage. Immerfort wird sich verkleidet. Mrs. Quickly taucht mit Atombusen und blonder Lockenperücke als weiblicher Postillon d’amour bei Falstaff auf. Der wiederum geht bevorzugt im prächtigen Renaissancekostüm auf Liebesabenteuer aus, um im bürgerlichen Morgenmantel als gutaussehender junger Mann am Ort des erwünschten Geschehens anzukommen.

Hier nun geschehen andere Wunder der theatralen Verwandlung. Alice sieht den gutaussehenden Mann und hört von der vermeintlichen Spottgestalt Falstaff Töne, die sie von ihrem extrem eifersüchtigen und ansonsten völlig durchschnittlichen Ehegespons wohl noch nie vernommen hat. Komplimente, Anbetung, Verehrung, Poesie. Wie sie sich aufrafft, trotzdem die verabredete Scharade mit Wäschekorb, Paravent, Hausdurchsuchung und Entsorgung des Ritters in die Themse durchzuziehen, ist eine Meisterleistung psychologischen Kammerspiels.

Regisseur Christof Loy sparte sich den abgegriffenen Gestus von den Alten, die sich immer noch Künstler genug für eine Oper fühlen und es der Welt noch einmal zeigen wollen. Das sah man letzthin zum Beispiel bei Johann Kresnik in der Volksbühne. Loy hingegen verwirbelt die Spielebenen viel wundersamer. Er verquickt Altsein/Jungsein, Verliebtsein/Einsamsein, Luxusbühne/Shakespeare-Theater, Klamotte/Kammerspiel. Nie weiß man ganz genau, auf welcher Spielebene gerade balanciert wird.

Ursula Renzenbrink dachte sich den erheiternden Kostümzauber aus, den Raum für den Gang durch die Zeit schuf Johannes Leiacker. Seine Idee für das Schlussbild ist genial, solch einen Wald haben selbst Elfen, Sylphiden und der mysteriöse Jäger Herne noch nicht gesehen. Apropos Sylphiden. Sie schweben auf Spitze im Tüllrock daher und tragen Flügelchen auf dem Rücken. Ein Männerballett übernimmt in der Mittsommernacht die Abteilung Klamotte.

Beim Zuschauer liegt es, den Schwebezustand zu genießen oder nach der Haltestange zu suchen. Das Schöne ist, nicht einmal Giuseppe Verdi, sein Librettist Arrigo Boito oder gar Shakespeare halten sie bereit. Boito verklammerte mit literarischem Vergnügen mindestens zwei Shakespeare-Stücke, und Verdi zitierte und konterkarierte für sein letztes Werk alles Mögliche aus seinem Schreibtisch. Zuoberst lag »Otello«, aber auch bis zur »Traviata« hat er sich zurückgewühlt und dabei doch alles in einen ganz neuen Stil gegossen.

Dirigent Donald Runnicles hatte seine offensichtliche Freude an Verdis letztem Wunderwerk. Im ersten Teil kostete er die Schönheiten gelegentlich zu sehr aus; es dauerte etwas, bis die Sache Fahrt aufnahm. Im dritten Akt indes glitzerte und flimmerte es; die berühmte Schlussfuge über die Narrheiten der Welt, sophistisch wie sie ist, flog nur so vorbei.

Christoph Loy wollte seinen Falstaff mit einem Sänger ohne dickbäuchige Routine besetzen. Für den erkrankten Markus Brück sprang ein wahrhaft junger Mann ein, Noel Bouley, noch nicht einmal 30 Jahre alt. Noch ist seine schöne und farbenreiche Stimme nicht raumfüllend, sein Darsteller-Talent war es durchaus. Im übrigen Ensemble durfte jeder einmal glänzen, so Dana Beth Miller mit den tiefen Orgeltönen der Mrs. Quickly, Barbara Havemann mit den unerklärten Herzenslauten der Alice, Elena Tsallagova als zauberfeine Elfenkönigin Nanetta, sekundiert von ihrem Fenton Joel Priesto, Michael Nagy mit einem mächtigen baritonalen Lobgesang auf die eigene Eifersucht.

Am Ende waren alle glückliche Narren, kein einziges Buh, nur eitel Beifall.

Nächste Vorstellung: 22.11.

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