Oh, welch ein edler Geist ist hier zerstört!
Leander Haußmann traut sich was. Seine »Hamlet«-Interpretation im Berliner Ensemble ist ein starkes Stück
Brrmmscht zwsss, horatn schtzs. Rdn abkrbr osn feils. Was das heißt? Sie verstehen nichts? Tut nichts zur Sache. - Aber doch möchte ich’s. Wir sind schließlich in Shakespeares »Hamlet«, so heißt man das Stück. - Na, und? Dieses ist ja ein geliehener Gaul, auf dem jeder, vor allem jeder Theaterregisseur, nach seiner Fasson herumreitet und das auch darf.
Und wenn, wie in diesem Falle, der weltweit neuesten »Hamlet«-Interpretation, achtzig Prozent der Shakespear’schen Ohrwürmer im künstlichen Nebel auf Rampe und Hinterbühne und im hustenden Zuschauerraum versacken - macht nichts, »Hamlet« kennt doch jeder. - Und, wenn aber jemand nicht? - Unsinn, »jemand« ist nicht »jedermann«, also Abiturient oder Volkshochschüler, beispielsweise. »Jemand« ist der mittelbildungsbürgerliche Insider, der heutzutage noch Muße und Geld aufzubringen in der Lage ist, den samtenen Theater-Klappsitz herunterzutatschen und »Hamlet« hie und »Hamlet« da und »Hamlet« einst und »Hamlet« jetzt zu sehen und zu vergleichen.
Halt, nicht ganz. Was ist mit den wirklich noch an Shakespeare Interessierten, die wissen wollen, was er uns zu sagen hat anlässlich des Vor-Augen-Führens des ältesten Verbrechens der Menschheit, dem Brudermord, des Hörbarmachens der Fragen von Schuld, von Sühne, von der Unausweichlichkeit immerwährender Gewalt, vom Bösen, von Vater-, Mutter-, Sohnesliebe, von verbotener Liebe, von missbrauchter Liebe, von Liebe zu sich selbst, ja, Liebe überhaupt, die auch den Hass einschließt, von Melancholie und Entscheidungs- und Handlungsunfähigkeit, vom ewigen Kampf zwischen Wahn-Trug-Illusion und Wirklichkeit und von so vielem anderem Menschheitselementaren und nicht zuletzt von den uns aufhelfenden Möglichkeiten des Theaters, was ihm da so eingefallen ist und das auch für uns auf den Weg zu bringen war?
Allen, die »Hamlet« als Shakespeares »tiefsinnigste Tragödie« ansehen, sei gesagt: Es geht auch anders, hier am Berliner Ensemble. Und: Es geht auch ganz flach. Den Ball flach zu halten, kann ganze Reiche retten (Dänemark unter Claudius statt des alten Hamlets vielleicht), ganze Welten. Kann möglicherweise aufkommenden Überdruss an immer neuen »Hamlet«-Interpretationen dämpfen.
Was in Leander Haußmanns »Hamlet«-Version am Berliner Ensemble also absichtsreich gedämpft ist - wir vernahmen es bereits -, ist die Textverständlichkeit, überhaupt die Akustik. Sofern nicht gerade zugange sind: übergreller Blitz und ordentlich herumwummernder (Theater-)Donner sowie fiese Platzpatronenknallschüsse, selbige auffallend plötzlich (bei dreieinhalb Stunden Aufführungsdauer in vernebelter Luft gilt es, die Einschlafgefahr zu bannen). Und dumpfig ist’s nicht bloß im Nebel an Dänemarks Küste, die in dunkelgraue, schmutzige Milchigkeit getunkt ist, somit auch in Zuschauers Ohr, sofern nicht gerade hochtonig monoton geschrien wird, was summa summarum heißen will: Wir sind beim Thema Theater und dem, was es tun, lassen, und dem, wie es doch alles spielen und seinen Spaß damit treiben kann.
Dass diese Inszenierung zudem im Haus des Meisters der Verfremdung, Bertolt Brechts Berliner Ensemble, ihre Bühne bekommen hat, wird gedankt mit dem enthusiastischen Stakkato »brecht, brecht, brecht!«, das nach dem zufällig im Satz gefallenen Verb beziehungsweise Imperativ »... brecht ...« losbricht. Ob »Sein oder nicht sein, das ist hier ...«, ob »Der Rest ist ...«, ob »Es ist etwas faul im ...«, ob »Die Welt ist aus den ...« - all die Lieblinge vieler Generationen, sie werden ganz einfach beiseite gesprochen, so was von Unerheblichkeiten aber auch!, diese Sachen, schließlich haben ganze TV-Serien darübergehobelt.
Gedämpft, herabgedimmt ins gleichmacherische Grau - farblos das Leben, undurchsichtig jede Theorie - ist auch das Bühnenbild (Johannes Schütz). Bis fast zum Oberboden hinaufreichende fahrbare Pappstellwände mit rechteckigen Ausschnitten (Fenster, Türen, Begrenzung und Weite, Licht und Schatten, des Schicksalsschlagklopfens Resonanzraum, die Wortverschluckfalle), auf die Drehbühne fächerfügelartig montiert und bei Bedarf (mehr gegen Ende des Stücks) um- und abzubauen - ganz geschwind, ganz leicht können die Sparmodellkulissen verschwinden, und dann ist nichts mehr davon, was sich hier abspielt, noch Theater.
Eine Türe ist ganz menschenklein, die typische Theatertür, meist geschlossen, wegen des Daraufschlagen- und des Mit-dem-Kopf-durch-die-Wand/Tür-Müssens. Hamlet zumeist - wer sonst - ist dieser Türsteher, -anklopfer und -durchgänger. Den anderen, Polonius, Rosenkranz und Güldenstern vor allem, sind Stellwand-Fensterstürze gegeben. Die scheinheiligen Jugendfreunde Hamlets werfen sich von selbst über sie oder legen sich klappmesserartig darüber, werden also hinübergewurstet wie alle armen Würstchen am Rande des Weltgeschehens. Dauergrinsend geben sie auch mal ein Showtanzduo à la Hollywood-Dubidubidu. Das sagt schon viel.
Noch viel mehr sagt, dass die Drehbühne mit ihren im Slalom zu durchlaufenden Öffnungen (offen - wohin?) einfach nicht stehenbleiben will. Sie dreht und dreht sich, alle Schauspieler müssen laufen und laufen - ach, es ist der Weltenlauf, das Immergleiche. Die alte Leier bisher auch das »Hamlet«-Interpretieren. Wie müde doch wird man dadurch. Ein Lied davon singt - Szene für Szene, die Pausen und somit Handlungsstillstand sind für Videoclip-gewöhnte Zuschauer sehr, sehr, sehr lang - das Engel-Duo »Apples in Space«. So moritatenleierisch softig und Engel-pflichtbewusst eindöselnd, nämlich gleichmütig hinüberbegleitend in eine andere Welt, war noch keine Stückmusik vor dem Akkordeon und der Gitarre von Julie Mehlum und Philipp Haußmann (Letzterer ist, ja, ja, mit dem Regisseur verwandt: der Sohn).
Apropos Sohn: Hamlet. Tja, was soll man sagen, ein kleines, mageres Bürschchen, wie es so zierlich (aber immerhin: durchtrainiert, anatomisch korrekt und also schön und überdies zäh) wohl noch nie gegeben hat in der Theatergeschichte. Und dieses Kerlchen, dem man eigentlich nichts, bestenfalls partiellen Wahnsinn nach ausgiebigem Kiffen, zutraut, der aber ordentlich was vom Theaterspielen versteht und sogar vom Koloratur-, gar Eunuchensopran, nämlich wenn es zielführende Sätze auszusprechen hat wie - na, ist ja egal -, dann singt es ganz hoch oben glockenhell wie die Männer auf Shakespeares alter Staub- und Bretterbühne (die, weil keine Frauen schauspielerberufsausübend sein durften, auch die weiblichen Rollen übernahmen) und kommt davon aber schnell wieder runter, dieses Jüngelchen also, das vielleicht irgendwas Inzestuöses mit seiner Mutter hatte oder hat, die ihn hat abblitzen lassen, indem sie Claudius nahm oder der sie, den Onkel und also Bruder des Vaters - ach, was soll’s, denn wer kann wissen, was wirklich ist, wenn nicht einmal Ophelia mehr begreift (begreifen auch im Wortsinne) als das zerstäubbare, ja, schlussendlich von Hamlet mit der Theaterwindmaschine weggepustete (Brief-)Papier, auf dem er an sie adressierte Nettigkeiten von sich gegeben hatte. Anna Graenzers Ophelia kann einem wirklich leidtun.
Christopher Nell hat für seine so zickige wie erwartungszerraspelnde »Hamlet«-Darstellung (ein physischer und textmengenmäßiger Kraftakt ohnehin) einen noch zu erfindenden Theaterpreis verdient. Und, was die Regie betrifft, der Preis ist heiß hier, eine Jury von Kannibalen wird ihn vergeben für die Splatter-Horror-Picture-Show. Denn hat man je gesehen, dass nicht - die überlieferte, allbekannte Pose einnehmend - der Schädel aus des Abgemurksten Grab es ist, der zum pathetischen Sprücheaufsagen hochgehalten wird, sondern - Hamlet hat Polonius’ Rübe zerhackt - dessen inneres Weiche, das blutschaumige Gehirn? Und dass daran genascht wird? Leander Haußmann macht’s möglich.
Und macht, dass dann diese klumpige Masse, in der innewohnend Geist und Geistiges zu sein schienen, und deretwegen man gemeinhin des Menschen Überlegenheit herzuleiten pflegt, einfach fallengelassen und weggeworfen wird, wie auch das Gekröse, das Hamlet Polonius Stück für Stück herausreißt, um sich gleich darauf einen Zuschauer auf die Bühne zu zerren und ihn abzuschlachten mit dem Theatermesser: Aufs Aas wollen nur die Fliegen. Wessen Gedanken, welch Geistes Blässe ist da angekränkelt? Grusel, Grusel.
Beim finalen Fechtkampf darf sich endlich mal wieder beweisen, dass die Theaterschulengrundkursausbildung nicht umsonst war. Überhaupt haben sich bis zuletzt alle heftig abgerackert in Laufmarathon, Getümmel, Geschieße und Gemetzel. Außer Traute Hoess, Hamlets Mutter im roten Kleid. Die hat nicht viel mehr zu tun, als roten Wein zu trinken. Während Norbert Stöß, Polonius als öliger Januskopf, aus seiner Rolle einmal heraustreten kann, quasi Regisseurskommentar gibt: »Lief doch ganz gut bis jetzt«. Regisseur Haußmann steht mit lässiger Geste daneben.
Beziehungsweise sein Geist.
Nächste Vorstellung: 26.11.
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