Der Rufer in der Steppe
Ruth Renée Reif im Gespräch mit dem deutsch-mongolischen Schriftsteller Galsan Tschinag
nd: Herr Tschinag, der Titel Ihres neuen Romans »Der Mann, die Frau, das Schaf, das Kind« lässt an ein Märchen denken.
Tschinag: Das Leben ist ein Märchen. Dass wir da sind, als menschliche Wesen geboren wurden und auf diesem wunderbaren Planeten leben, ist ein Märchen, auch wenn viele Menschen das nicht mehr so empfinden. Wenn ich zurückblicke auf die Träume, die ich hatte und die alle in Erfüllung gingen, dann erscheint mir mein Leben wie ein Märchen. Ich wollte in einer fremden Sprache Bücher schreiben und ich habe 34 Bücher in deutscher Sprache veröffentlicht, die auch in andere Sprachen übersetzt wurden. Ich wollte eine Million Bäume pflanzen und mit der Unterstützung meiner Leser habe ich 350 000 Bäume in der mongolischen Erde stehen. Und schließlich wollte ich den Regen in die seit Jahren von Dürre geplagte Mongolei zurückholen und seit zwei Jahren regnet es wieder.
Ihr Roman endet mit der Rückkehr aus dem städtischen Kapitalismus von Ulan-Bator ins Nomadenleben. Ist das ein wahres Märchen oder ein erträumtes?
Menschen in der Mongolei leben diesen Traum bereits. Es ziehen derzeit zwei Karawanen durchs Land. Die eine, größere, bewegt sich vom Land in die Stadt. Die Menschen auf dem Land sehen im Fernsehen schöne Bilder vom städtischen Leben in der Hauptstadt. Sie beschließen, ebenfalls dorthin zu ziehen, um an dieser Schönheit teilzuhaben. Aus dem Erlös vom Verkauf ihrer Tiere erwerben sie einen Lastwagen. Darauf packen sie ihre Jurte und ihre Kinder. Doch dann kommen sie in die Stadt und stehen erschrocken da ohne Aufnahme. 1,4 Millionen der 2,8 Millionen Mongolen leben mittlerweile in Ulan-Bator. Es gibt auf dieser kleinen Fläche inmitten von vier Bergen keine freie Lücke mehr. Das ist kein menschenwürdiges Leben. Der andere Umzug findet in die Gegenrichtung statt, aus der Stadt zurück auf das Land. Es sind noch wenige, aber weise Köpfe, die diese Gegenreise unternehmen.
Vor einigen Jahren fürchteten Sie noch, das mongolische Nomadentum werde sich aus der Geschichte verabschieden. Wird es jetzt zur Lebensalternative?
Es ist eine kleine Alternative. Das ändert jedoch nichts daran, dass die Mongolei seit Jahren von einem einschneidenden Wandel erfasst ist. Was die Mongolei mongolisch macht, verschwindet. Keiner trägt mehr unsere Tracht, diese lange Deel genannte Kutte. Kaum jemand reitet noch auf einem Pferd. China überschwemmt die Mongolei seit einem Jahr mit Billigstmotorrädern. Vor einiger Zeit besuchte ich einen Verwandten aus meiner Sippe etwa 200 Kilometer westlich von Ulan-Bator im Gebirgsmassiv Sama. Er besitzt etwa vierzig Pferde. Aber wenn sein Sohn eines zum Schafehüten holen soll, treibt er es hupend mit dem Motorrad herbei. Und das dritte, was verschwindet, ist die Jurte, das runde Filzzelt. Anfang des Jahres reiste ich mit einem Filmteam in meine Heimat im Altai-Gebirge. Wir mussten drei Tage suchen, bis wir eine Jurte fanden. Sie gehörte einer armen jungen Witwe, die es sich nicht leisten konnte, sich eine Hütte bauen zu lassen. Vor etlichen Jahren bestand selbst Ulan-Bator zum größten Teil aus Jurtenvierteln. Diese Elendsbezirke bestehen immer noch. Aber die Jurten sind Bretterhütten gewichen.
»Damals aber habe ich gelebt!«, lassen Sie die Frau in Ihrem Roman im Rückblick auf ihr Leben in der Steppe sagen. Was zeichnet dieses Steppenleben aus, dass Sie es im Unterschied zum Großstadtleben als das wahre Leben darstellen?
Es ist ein Leben mit der Natur. Da spürt man jeden Tag und jede Stunde, dass man lebt. In einer Großstadt kann man nicht mehr an das Leben denken. Man hat andere Verpflichtungen, muss Geld verdienen und ums Überleben kämpfen.
Aber ist das Nomadenleben in der Steppe nicht ein hartes Leben?
In der zivilisierten europäischen Industriewelt hat man eine falsche Vorstellung vom Leben. Die Menschen wollen das Unangenehme, Harte beiseiteschieben. Sie bemühen sich, ihre Kinder nicht hungern, frieren und weinen zu lassen. Damit schließen sie eine natürliche Hälfte des Lebens aus. Leben bedeutet satt sein und hungrig sein, trinken und Durst verspüren, lachen und weinen, sterben und geboren werden. Auf dem Land folgt das Leben noch diesem Zyklus. Die Nomaden haben keine hohe Lebenserwartung. Sie sterben im Durchschnitt mit sechzig Jahren. In den Industrieländern erreichen die Menschen mittlerweile eine Lebenszeit von neunzig Jahren. Aber diese neunzig Jahre Stadtleben sind viel kürzer als ein Nomadenleben, das jeden Augenblick bewusst erfahren wird.
Sie beklagen die »immer grausamer wütende kapitalistisch-mongolische Wirklichkeit mit Vetternwirtschaft, Bestechlichkeit und Arbeitslosigkeit«. Trifft diese Kritik die heutige Realität in der Mongolei?
Ja, und die Lage verschlimmert sich von Tag zu Tag. Die gesamte mongolische Regierung ist korrupt. Die Parlamentarier haben über Nacht ein Immunitätsgesetz durchgepeitscht. Wer als Abgeordneter dem Parlament angehört, kann für nichts belangt werden. Da sitzen die Halunken, Diebe und Räuber, und das Gesetz schützt sie. Solange dieses Gesetz existiert, kann sich in der Mongolei keine demokratische freiheitliche Ordnung entwickeln.
»Der Staat, der Gefängnisse errichtet, Armee, Polizei und Staatssicherheit gegründet hat, ist die Urquelle des Übels«, heißt es in Ihrem Roman und Sie propagieren eine Gemeinschaft, die über »all diese Unwesen« nicht verfügt. Wie kann sich ein solches Gemeinschaftsleben organisieren?
Es ist die Urgemeinschaft, in der die Tuwa-Nomaden mit einem Bein bis heute leben. Und es ist das Leben, das auch Rousseau mit seinem »Zurück zur Natur« erstrebte. Utopisten aller Zeiten suchten danach. Das Leben ist nicht nur eine Pflicht, sondern auch ein Recht. Wenn man will, kann man menschenwürdig leben. In der Mongolei hätte man die besten Voraussetzungen, zu einer glücklichen Gemeinschaft zu gelangen.
Haben Ihre mongolischen Schriftstellerkollegen einen ähnlich kritischen Blick auf die Entwicklung des Landes oder sind Sie ein einsamer Rufer in der Steppe?
Die Intelligenz in der Mongolei ist mittlerweile sehr ernüchtert. Diejenigen, die gegen das kommunistische System demonstrierten, sind enttäuscht von dem, was nach dem Sturz des Kommunismus entstand. Begriffe wie Demokratie und Freiheit sind dermaßen unglaubwürdig geworden, dass die Menschen sie nicht mehr hören wollen.
In den sechziger Jahren lebten Sie während Ihres Studiums der Germanistik in der DDR. Wie sehen Sie diesen Staat heute?
Das größer gewordene kapitalistische Deutschland zeichnet ein sehr düsteres und verlogenes Bild vom Leben in der DDR. Ich nehme den Kommunismus nicht in Schutz. Denn ich war selbst ein harter Kritiker. Deswegen bekam ich in der Mongolei Berufsverbot, das übrigens bis heute besteht. Aber man sollte ein ehrliches Bild zeigen. Es stimmt, dass es in der DDR Knappheit bei Waren gab, die Stasi wütete und die Spitzenkommunisten besser lebten als das Volk. Aber wenn ich heute Romane über diese Zeit lese, stelle ich fest, dass die Autoren alles Dunkle zusammensuchen. In Wahrheit haben die Menschen damals doch auch geliebt und gelebt. Sie waren fröhlich und glücklich. Das schließt man alles aus.
Sie haben Ihr Studium mit einer Arbeit über Erwin Strittmatter beendet. Welches Verhältnis hatten Sie zu ihm?
Ein sehr gutes. Es war eine Beziehung wie zwischen Vater und Sohn. Ich habe seine Bücher studiert und konnte ihm beim Schreiben gleichsam über die Schulter schauen. Das ist sogar mehr als ein verhätscheltes Kind von seinem Vater empfangen kann.
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