In Stahlgewittern
Das U- und S-Bahnfahren in Berlin ist das Äquivalent zum Krieg. Noch wird nicht geschossen. Sonst aber gleichen beide Schauspiele sich einander mehr und mehr an: Die in dunklen Uniformen auf den Bahnsteigen mit Schäferhunden umhermarschierenden BVG-Patrouillen. Die unwirkliche, gespenstische Trichter- und Mondlandschaft der Berliner S- und U-Bahnhof-Dauerbaustellen. Das tagein, tagaus mit gesenkten Köpfen und trübem Blick einhertrottende Heer der Fahrgäste, das einen nicht von ungefähr an eine gewaltige Kolonne gedemütigter Kriegsgefangener denken lässt, die sich unter einem stahlgrauen Himmel ermattet an ihre mutmaßlich kriegswichtigen Fronarbeitsplätze schleppen. Das ohrenbetäubende Dröhnen der einfahrenden Züge, das an das Geräusch anrollender Panzer gemahnt. Die Entmenschlichung des Individuums und seine Verwandlung in Masse und Material. Die gellenden Schreie, die schrillen Pfiffe, die lauthals gebellten Kommandos (international auch als »Berliner Höflichkeit« bekannt).
Und nicht zuletzt natürlich die ermüdenden, kräftezehrenden Scharmützel an der Frontlinie, wo die Verluste am sichtbarsten sind: Mann gegen Mann, Bürosoldat gegen Bürosoldat, Auge um Auge, der Killerblick auf der einen und die sich weitenden Pupillen des Feiglings auf der anderen Seite, Aktenkoffer gegen Rucksack, Ellbogen gegen Brustkorb, Schienbein gegen Schuhspitze. Es ist die zeitgenössische Fassung von »In Stahlgewittern«. Sie heißt »Im Berufsverkehr«.
Es ist ein unbarmherziger Stellungskrieg, der aus Ruhepausen (den Zeiten der Fahrt von Station zu Station) und mörderischen Angriffsphasen (den Zeiten des Anhaltens und Türenöffnens) besteht. Die Frontlinie ist der schmale Streifen Niemandsland zwischen Bahnsteigkante und Waggon.
Kaum öffnen sich die automatischen U-Bahn-Türen mit eben jenem bedrohlichen Zischen, das man vom Anstecken einer Zündschnur kennt, auch nur einen Spalt breit, tritt der nervenzerfetzende Stellungskrieg in eine neue Phase ein: Einsteigende gegen Aussteigende, feindliche Truppen, die aufeinander losgehen. Durch die geöffneten Türen ergießt sich schwallartig ein Menschenstrom, der nach Art einer durchdrehenden, unter »Hurra«-Rufen besinnungslos nach vorne preschenden Schar Infanteristen alles niederwalzt, was ihm im Wege ist. Es geht darum, den Feind, den Ausstiegswilligen, diese erbärmliche Drecksau, zu überrennen. Keine Gefangenen. Im Krieg werden schließlich auch keine gemacht.
Die in den Waggon Strömenden haben den Blick scharfgemachter Dobermänner, die man seit Tagen systematisch ausgehungert hat. Die Verteidigungslinie der Aussteiger wird von der ins Wageninnere stürmenden Infanterie der Einsteiger in Windeseile zerschlagen. Alle wurden erfolgreich umgenietet. Die Türen schließen sich. Feuerpause.
Wer aussteigen wollte, muss seine Kräfte sammeln und es an der nächsten Station versuchen.
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