Viele Zeilen für die Wissenschaft

Die Forschungsbibliothek im thüringischen Gotha sammelt Briefe von Auswanderern

  • Antje Lauschner, Gotha
  • Lesedauer: 4 Min.
Millionen Deutsche wanderten im 19. Jahrhundert nach Amerika aus in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Ihre Briefe in die alte Heimat sind für Historiker und Migrationsforscher unerschöpfliche Quellen.

»Am Neujahrsmorgen zog ich ein weißes Hemd an, und noch dazu eins, was noch von dir gewaschen und geplättet war.« Robert Voigt schrieb diese wehmütigen Zeilen am 7. Januar 1863 vom Schlachtfeld des amerikanischen Bürgerkrieges in Harrisburg an seine Frau Anna und die Kinder in Schneeberg in Sachsen. Es ist einer von mehr als 10 000 Briefen und Postkarten von deutschen Auswanderern, die die Forschungsbibliothek im Schloss Friedenstein in Gotha wie einen Schatz hütet. Die Menschen kehrten damals zuhauf armen Landstrichen wie dem Hunsrück, Westfalen, Norddeutschland, Sachsen oder Thüringen den Rücken in der Hoffnung auf ein besseres Leben, sagt die Historikerin Ursula Lehmkuhl.

Allein 3,8 Millionen deutsche Auswanderer verließen zwischen 1830 und 1974 ihre Heimat per Schiff von Bremerhaven aus. Die drei größten Auswandererwellen gab es in den frühen 1850er und 1880er Jahren sowie in den 15 Jahren nach Kriegsende 1945, erläutert die Direktorin des Deutschen Auswandererhauses in Bremerhaven, Simone Eick. Waren anfangs fast ausschließlich die USA das Ziel, steuerten die Auswandererschiffe in den 1880er Jahren verstärkt auch Brasilien und Argentinien an. Noch in den 1950er Jahren versuchten nach einem Abkommen zwischen der Bundesrepublik und Australien Tausende Deutsche auch auf dem fünften Kontinent ihr Glück.

»Die meisten deutschen Kleinbauern verspürten ab den 1830er Jahren die Armutsspirale am eigenen Leib - sie gingen, bevor sie endgültig verarmt waren«, berichtet Eick. Die Daheimgebliebenen erfuhren durch Briefe von guten Lebensbedingungen in Übersee und nicht wenige entschieden sich, ebenfalls auszuwandern. »Die Millionen Briefe, die im 19. Jahrhundert über den Atlantik gingen, lösten eine Kettenwanderung aus.«

Oft voller Heimweh zu Weihnachten und Neujahr in engen Zeilen geschrieben, erzählen die Briefe von oftmals schwerem Anfang, dem Überleben im ersten Winter, von Hoffnungen und langsamem Sesshaftwerden. »Die Schreiber im 19. Jahrhundert waren Bauern, Handwerker, Dienstmädchen, Hausfrauen, die unter anderen Umständen nie geschrieben hätten«, erzählt Lehmkuhl. »Das macht die Sammlung für Historiker, Migrations- und auch Sprachforscher heute so spannend: weg von Statistiken und Dokumenten hin zur Geschichte des einfachen Mannes und der einfachen Frau.«

So schrieb etwa die Witwe Hedwig Schindler, die 1891 aus Hof an der Saale nach Madison ausgewandert war, an eine Bekannte in der Heimat vom plötzlichen Tod ihres Jungen, kaum dass sie vier Wochen in ihrer neuen Heimat waren. Neben der Trauer um den »Verlust meines kleinen Engels« muss die Witwe nach vorn schauen. »Ich kann jederzeit Parthie machen, da deutsche Frauen sehr beliebt sind hier.«

»Wertvoller als Einzelbriefe sind für uns Briefserien, am besten über Generationen hinweg«, sagt Lehmkuhl. Der Briefwechsel in der Familie von Johann Heinrich Carl Bohn aus Remptendorf in Thüringen etwa sei einmalig. 1852 sei Bohn nach der gescheiterten 1848er Revolution nach Ohio ausgewandert. Bis in die frühen 1980er Jahre habe es einen Briefwechsel zwischen seinen Nachfahren und Angehörigen in Thüringen gegeben.

»Wir können daran Auswanderung reflektieren und wie Auswanderer mit Ereignissen wie dem Ersten Weltkrieg oder der deutschen Teilung umgingen.« Das Besondere im Fall Bohn: Der Name stand über Jahrzehnte für sozialrevolutionäres Engagement. Die beiden ältesten Söhne unter Bohns 18 Kindern aus drei Ehen hielten im amerikanischen Bürgerkrieg die Ideale der Freiheit hoch. Die beiden Jüngsten studierten, promovierten und engagierten sich in der sozialistischen Bewegung um 1900 für den Aufbau eines Sozialsystems in den USA.

Begonnen wurde das Forschungsprojekt zu den Briefen ursprünglich an der Ruhr-Universität Bochum. 2002 unterstützte die Deutsche Forschungsgemeinschaft DFG die Rettung alter Briefe von Dachböden und aus Kellern in den neuen Ländern. »Mit 4000 Briefen wurden alle meine Erwartungen übertroffen«, sagt Lehmkuhl, die mittlerweile eine Professur für Internationale Geschichte in Trier hat, die Gothaer Sammlung aber weiterhin betreut. »Wir sammeln weiter.«

Auch heute gehen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes noch immer Tausende Deutsche ins Ausland. 2012 waren es rund 134 000, im ersten Halbjahr 2013 an die 61 000. Ob für immer oder eine bestimmte Zeit, wer weiß: Laut Deutschem Auswandererhaus kehrten anfangs zwischen 20 und 30 Prozent der Emigranten in die alte Heimat zurück - aus übermächtigem Heimweh oder nach beruflichen Fehlschlägen. dpa/nd

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