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- Bewegungskolumne
Zum Jahreswechsel
Wir leben in einer Zeit, die keinen Platz hat, für die, die ihren Platz zum Leben und zum Überleben suchen
»Da machte sich auch auf Joseph aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, darum dass er von dem Hause und Geschlechte Davids war, auf dass er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe, die ward schwanger. Und als sie daselbst waren, kam die Zeit, da sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.«
So haben es in den vergangenen Tagen – trotz Kirchenmüdigkeit – zigtausende Menschen gehört: Besinnlichkeit tanken, zum einen Ohr rein, und zum anderen raus. Alle Jahre wieder. Es hat keinen Zweck mehr, diese Geschichte zu erzählen. Vielleicht lassen wir den ganzen christlichen Kulturkram einfach mal beiseite und erzählen die Geschichte anders: so, wie mir eine Freundin schrieb:
»Bereits der ungeborene Jesus war heimatlos. Ein Mensch der Straße, der Straße zwischen Nazaret und Bethlehem, wo sich seine Eltern von den Listen eines Tyrannen erfassen lassen mussten. Und bereits der ungeborene Jesus wusste, wie sich das Wort Wegweisung buchstabiert, weil in der Herberge kein Platz für ihn war. Keine Villa aus Stein, kein Haus aus Holz, nicht mal eine Sozialwohnung, sondern bloß irgendein windschiefer Unterstand, ein zugiger Bretterverschlag, ein wettergegerbtes Tuch über vier Stöcken. Ein Futtertrog am Weg.«
Gut, jetzt klingt sie zeitgemäßer: Sozialwohnung, heimatlos, kein Platz. 15.000 Tote im Mittelmeer, gerade mal 5000 syrische Flüchtlinge mehr, die in der Bundesrepublik aufgenommen werden sollen. Kein Winterabschiebestopp für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge. Passiert jetzt was, irgendeine Anrührung, Berührung, der Impuls aufzustehen, den Aufstand zu wagen? Nicht wirklich, oder?
Wir leben in einer gnadenlosen Zeit. Entschuldigung für die theologische Redeweise. Andere Worte fehlen mir. In einer Zeit, die keinen Platz hat, für die, die ihren Platz zum Leben und zum Überleben suchen. »Die Kultur des Wohlergehens, die uns an uns selber denken lässt, macht uns unsensibel für die Schreie der anderen, sie lässt uns in Seifenblasen leben, die zwar schön sind, aber nichtig, die eine Illusion des Unbedeutenden sind, des Provisorischen, die zur Gleichgültigkeit dem Nächsten gegenüber führt und darüber hinaus zu einer weltweiten Gleichgültigkeit! Von dieser globalisierten Welt sind wir in die globalisierte Gleichgültigkeit gefallen! Wir haben uns an das Leiden des Nächsten gewöhnt, es geht uns nichts an, es interessiert uns nichts, es ist nicht unsere Angelegenheit!« sagte der neue Papst Franziskus auf Lampedusa.
Natürlich ist das Moral, ethischer Anspruch. Franziskus redet nicht von Grenzregimen, von ökonomischen Interessen, die hinter der Selektion von Einwanderungswilligen steckt, nicht von den geostrategischen Interessen der militärischen Absicherung von europäischen Grenzen. Er fordert zur »Umkehr« auf, schon wieder so ein christliches Wort. Aber genau darum geht es doch: diesen schmalen Spalt zwischen gesellschaftlichem Zwang und persönlicher Freiheit zu erwischen und zu sagen: »Ich mach nicht mehr mit!« Und sich zusammenzutun mit denen, die auch sagen: »Es reicht – Ya Basta!« Keine Menschenrechtsverletzungen mehr akzeptieren, der Ideologie »das Boot ist voll« entgegentreten, bei Gesetzen zwischen Legalität und Legitimität unterscheiden.
Es ist also Zeit, mal von denen zu sprechen, die sich dieser globalisierten Gleichgültigkeit verweigern. Von den Leuten von Pro Asyl, von kein mensch ist illegal, von den Unterstützerinnen der Lampedusa-Flüchtlinge in Hamburg …, die sich einen Teufel um die Kultur des Wohlergehens scheren, die anderen auf die Nerven gehen, darauf bestehen, dass Menschenrechte unteilbar sind, dass wir also alle Brüder und Schwestern sind. Ich weiß nicht, von wem, von welcher Sprache, welcher Erfahrung, welcher Tradition und welchen Geschichten sie sich haben berühren lassen. Aber ich bin froh, dass es so etwas noch gibt. Das macht Hoffnung und ist zugleich ein Indiz dafür, dass man nicht aufhören darf von bestimmten Dingen zu sprechen, bestimmte Geschichten zu erzählen. Geschichten, Erfahrungen, Traditionen: Ich glaube, dass solche Dinge eine wichtige Rolle in der Ausbildung militanter Biografien spielen. Die Reflexion, die Kritik der politischen Ökonomie, die Analyse der herrschenden Ideologie ist meistens der zweite Schritt. Und wie es die menschliche Geschichte so will, sind die Orte und Institutionen solcher Traditionen und Geschichten immer von einer erheblichen Zweideutigkeit bestimmt. So, wie auch unsere Praxis nie unschuldig bleibt, ist auch die Geschichte unserer Praxen zweideutig: Von Herrschaftsmechanismen und Befreiungsimpulsen zugleich durchdrungen. Das gilt für die lange Geschichte des Christentums ebenso wie für die relativ kurze des Kommunismus. Wenn wir nach Menschen und Orten suchen, die für die Möglichkeit des »Ya Basta«, des Bruchs offen sind, müssen wir das berücksichtigen und erhoffen: dass sie (noch) in und mit Traditionen leben, die auch die Möglichkeit eines ganz Neuen enthalten.
Ende der neunziger Jahre wollte uns der Soziologe Ulrich Beck das neue Ideal des neoliberalen Menschen, den Erfinder, den Selbstverantwortlichen, den, der sich von keiner Autorität einschüchtern lässt, der mit allen Traditionen und Institutionen bricht, als urdemokratischen, schöpferischen neuen Menschen verkaufen. Heute wissen wir, dass die Dinge so einfach nicht sind. Was zunächst als fortschrittlich und vereinbar mit linken Vorstellungen schien, endet im Selbstunternehmertum und verlorener Einsamkeit. Auch darum sollte man es sich mit Institutionenkritik und Kritik von Traditionen nicht allzu einfach machen. Um nicht denen das Wort zu reden, die ein ganz anderes Interesse an solchen Entwicklungen haben: Interesse an Profit und Verwertung, nicht an Solidarität und Menschenrechten.
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