Für eine Neugründung Europas
Wo ist das Kräfteverhältnis? Eine Antwort auf Thomas Händel und Frank Puskarev
Thomas Händel und Frank Puskarev schreiben in ihrem Artikel »Ein sozialistisches Europa?« einen kurzen Abriss über die »Europa-Debatte« in der europäischen Linken. Dabei handeln sie historisch nacheinander verschiedene AkteurInnen dieser Debatte, von Kautsky bis Spirelli, von Habermas bis Huffschmidt ab. Im letzten Abschnitt schlagen die beiden Autoren vor, sich von einer reinen reaktiven Kritik am Krisenmanagement der Europäischen Union zu verabschieden und stattdessen ein »gemeinsames europäisches Alternativprojekt zu formulieren«.
Wie dieses scheinbar »alternative« Projekt aussehen soll, schieben die beiden Autoren sogleich auch hinterher und skizzieren kurz eine »Konzeption für ein kooperatives, solidarisches Europa«, welche stark an sozialdemokratischen Vorstellungen erinnert. Weder wird die Eigentumsfrage gestellt, noch ist von einer Neugründung Europas die Rede. Vielmehr entpuppt sich dieses, von Händel und Puskarev vorgeschlagenes, »Alternativprojekt«, als ein Reformvorschlag für die real existierende Europäische Union, welcher offenbar zur Umsetzung – so scheint es - nur noch formuliert werden muss. Dabei übersehen die beiden Autoren nicht nur die jüngsten Diskussionen um ein »Europa von unten«, wie sie derzeit in der europäischen Bewegung gegen die Krisenpolitik der EU geführt werden, sondern auch das reale Kräfteverhältnis in der Europäischen Union. Es reicht daher für die Formulierung eines Alternativprojektes nicht aus, sich ausschließlich auf die Klassiker sozialistischer und sozialdemokratischer Europadiskussion zu beziehen, sondern es benötigt vielmehr eine Analyse der Kräfteverhältnisse auf der europäischen Ebenen und einen Blick auf die Geschichte der Europäischen Union.
Die EU als Elitenprojekt verstehen
Anders als die beiden Autoren es formulieren, war der europäische Integrationsprozess von Anfang ein Elitenprojekt. Nach dem zweiten Weltkrieg waren es europäische und US-amerikanische Eliten aus dem ökonomischen und politischen Bereich, wie etwa der Politiker Jean Monnent oder das Netzwerk »American Europeanists«, welche den Integrationsprozess fokussierten und vorantrieben. Mit dem Ende der »Eurosklerose« (Deppe 1993) und dem Scheitern der keynesianisch-korporatistischen Integrationsweise, Mitte der 1980er Jahre, entwickelte sich die Europäische Gemeinschaft (EG) zu einem wichtigen Stützpunkt europäisierter und transnationalisierter Kapitalfraktionen, was sich in der »wettbewerbsstaatlichen Integrationsweise« (Ziltener 1999) und der Durchsetzung eines europäischen neoliberalen hegemonialen Projekts äußerte. Netzwerke wie der European Roundtable of Industrialists, der sich aus Repräsentanten der 50 führenden europäischen Industriekonzernen zusammensetzt, waren federführend an den wichtigsten europäischen Projekten, wie etwa dem Binnenmarktprojekt, beteiligt. Dies führte, vor dem Hintergrund des Aufstiegs des Neoliberalismus und den damit einhergehenden strategischen Neuorientierung des Kapitals, dazu, dass europäische und transnationale Institutionen und Organisationen, wie der EuGH, die Europäische Kommission oder europäische Agenturen wie FRONTEX etc. deutlich an Bedeutung gewonnen haben, während gleichzeitig Institutionen wie das Europäische Parlament im Institutionenensemble der EU eine nachgeordnete, marginale Rolle spielen und sich eine wirkliche europäische Zivilgesellschaft im Sinne Gramscis nicht herausbilden konnte. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass die europäische Ebene aufgrund ihrer Konstruktion eine starke strukturelle Selektivität (Poulantzas 2002) für europäisierte und transnationale Kapitalfraktionen aufweist, d.h. das Vorschläge dieser Kapitalfraktionen mehr Gehör finden und sich ihrer Forderungen stärker angenommen wird als anderer. Gewerkschaften und NGOs können oftmals ihre Interessen nur vermittelt über die nationalen Regierungen in der EU äußern, womit ihnen auf der europäischen Ebene ein wichtiges Kampffeld fehlt.
Kräfteverhältnisse analysieren
Der Vorschlag eines »Alternativprojektes« von Händel und Puskarev übersieht zudem die Ergebnisse der jüngeren kritischen Europaforschung, wie sie etwa in der Forschungsgruppe Europäische Union in Marburg oder die Forschungsgruppe »Staatsprojekt Europa« in Frankfurt zu Tage gefördert wurden. Diese lassen erkennen, dass sich die neoliberale Integrationsweise in der Krise vielmehr verschärft und autoritär zugespitzt hat. Wichtige wirtschaftliche und politische Kompetenzen, welche auf der nationalen Ebene durch demokratisch gewählte Parlamente ausgeübt wurden, sind im Zuge der Krisenpolitik an die europäische Ebene abgegeben worden und werden nun in demokratisch nicht legitimierten Institutionen, wie etwa der Europäischen Kommission verhandelt. Gleichzeitig werden durch die Austeritätspolitik der EU die Gewerkschaften in den Mitgliedsländern geschwächt, die Mindestlöhne gesenkt und die Tarifautonomie geschleift. Der Gewerkschaftsforscher Thorsten Schulten spricht gar von einem »neuen europäischen Interventionismus« der EU in die nationale Tarifpolitik zur Ungunsten der Lohnabhängigen. Auch Lukas Oberndorfer von der Arbeiterkammer in Wien sieht in der aktuellen Krisenpolitik der EU eine »Radikalisierung des neoliberalen Projekts« in der die Wettbewerbspolitik autoritär durchgesetzt und institutionell verankert wird.
Interessant ist dabei, dass von der europäischen Austeritätspolitik vor allem jene Volkswirtschaften betroffen sind, in denen das nationale Kräfteverhältnis eine neoliberale Umstrukturierung in dieser Form in Vorkrisenzeiten verhindert hätte. Durch die Strukturprogramme werden die Handlungsmöglichkeiten für die Subalternen, ihre Interesse auf der europäischen Ebene zu artikulieren noch weiter eingeschränkt, da die Krisenpolitik der EU auch in die Kräfteverhältnisse in den Mitgliedsstaaten eingreift. Die Krisenbearbeitung durch die europäischen Eliten ist dabei allein auf die Wettbewerbsfähigkeit des europäisierten und transnational orientierten Kapitals ausgerichtet und schreibt die politisch-ökonomische Ausrichtung der EU fest.
Ein »Alternativprojekt«, welches eine Reform der Europäischen Union im sozialdemokratischen Sinne vorschlägt, übersieht genau dieses verfestigte und institutionell auf europäischer Ebene abgesicherte Kräfteverhältnis. Die Institutionen der EU sind zu stark vermachtet und die neoliberale Ausrichtung in den europäischen Verträgen (bspw. Lissabon-Vertrag) festgeschrieben, als das eine sozialdemokratische Reform der EU, ohne eine Infragestellung der realexistierenden EU möglich wäre. Ein »Alternativprojekt«, welches das Kräfteverhältnis übersieht schwebt im luftleeren Raum. Ein gegen-hegemoniales Projekt müsste vielmehr aus der fragmentierten europäischen Zivilgesellschaft, d.h. aus den verschiedenen Bewegungen und Kämpfen heraus entwickelt werden, welche die beiden Autoren ebenso übersehen.
»Europa von unten«
Es ist Händel und Puskarev zuzustimmen, wenn sie schreiben, dass die europäische Linke nicht in einer reaktiven Kritik der europäischen Austeritätspolitik verharren darf. Der passive Konsens in der europäischen Bevölkerung zum europäischen Projekt ist aufgezehrt. Das »Staatsprojekt Europa« (Kannankulam/Georgi 2012) steht zur Disposition und somit ist der Diskurs um die Zukunft Europas in der Zivilgesellschaft dominanter und für die Artikulation von Hegemonieprojekten offener den jemals zuvor. Dieses »gegen-hegemoniale Projekt« (Gramsci 2012) darf dabei nicht auf eine Reformierbarkeit der real existierenden Europäischen Union hoffen, sondern sollte klar eine Neugründung Europas von unten forcieren und eine andere europäische Politik der Menschen in den Vordergrund stellen. Hierbei ist eine Zusammenarbeit der emanzipatorischen Kräfte in den Parlamenten und in den Bewegungen gefordert. So scheint mir die Forderung nach einer Versammlung zur Neugründung Europas, nach 30 Jahren Integrationsprozess, als eine Möglichkeit, eine Europa von unten zu konstituieren. (Oberndorfer 2012) Damit könnte ein Forum geschaffen werden, das zum einen ein Ressonanzraum für die verschiedenen europäischen Bewegungen und Kämpfe darstellen könnte und zu anderen das das Vetorecht der Staats- und Regierungschefs im derzeitigen europäischen Entscheidungsverfahren aushebelt. Dies würde bedeuten, dass eine linke Gegenstrategie für ein Europa von Unten jede weitere Vertiefung der europäischen Integration mit der Forderung nach der Schaffung eines neuen Forums für Entscheidungen entgegnet, welches sich durch freie und geheime Wahlen zusammensetzt.
Ein gesamteuropäischer Diskurs für ein Europa von unten benötigt jedoch eine gemeinsame Begegnung und eine stärkere Vernetzung von Bewegung, Parteien und Gewerkschaften auf europäischer Ebene. Dabei können die Vernetzungen im Zuge des Blockupy-Protestes, sowie die gemeinsamen europäischen Aktionstage, am 01.06.2013 oder auch der gemeinsame (süd-)europäische Generalstreik im November 2012, als erste Erfolge gewertet werden. Dabei müssen die verschiedenen Bewegungen und Forderungen in Europa gebündelt und europäisch »gewendet« werden. (Oberndorfer 2012).
Dafür scheint sich das Aktionsfeld »Wohnraum« anzubieten (Jensen/Syrovatka 2013). Seit Beginn der europäischen Krise sind die Protestbewegungen für bezahlbaren Wohnraum und gegen Zwangsräumungen in ganz Europa stark gewachsen. Gerade in Spanien stellt die Plattform der Hypothekenbetroffenen, einen der Hauptakteure im Kampf gegen die Politik der Troika und der nationalen Regierung dar. Und auch in Deutschland, können die Bewegungen gegen Zwangsräumung, etwa in Berlin oder Hamburg, erste große Mobilisierungserfolge für sich verbuchen. Gleichzeitig ist dieses Thema offensichtlich kein nationales oder regionales Thema, sondern stark mit der europäischen Finanzmarktintegration sowie der aktuellen Krise verbunden. In allen Metropolen der EU sehen sich die BewohnerInnen enormen Mieterhöhungen und Zwangsräumungen ausgesetzt, wobei der Klassencharakter dieser strukturellen Aufwertungsprozesse stark und offensichtlich hervortritt. Damit ist der Konflikt um bezahlbaren Wohnraum auch diskursiv und medial vermittel- und mit der europäischen Austeritätspolitik verknüpfbar. Ein erster Schritt wäre dabei eine direkte Bezugnahme auf die Kämpfe in anderen europäischen Mitgliedsstaaten oder ein gemeinsamer europäischer Aktionstag zur Verhinderung von Zwangsräumungen. Langfristig besitzt das Thema das Potenzial als Bezugspunkt für andere Kämpfe, bspw. Reproduktionskämpfe oder Energiekämpfen zu dienen.
Auf lange Sicht muss es daher das Ziel sein, einen Prozess zu starten, in der die Neugründung Europas auf der Tagesordnung steht.
Literatur
Deppe, Frank (1993): Von der »Europhorie« zur Erosion. Anmerkungen zur Post-Maastricht Krise der EG. In: Felder, Michael/Deppe, Frank (Hrsg.), Zur Post-Maastricht-Krise der Europäischen Gemeinschaft (EG). FEG-Arbeitspapier Nr. 10. Forschungsgruppe Europ. Gemeinschaften (FEG). Marburg. S. 7-62.
Georgi, Fabian/ Kannankulam, John (2012):Das Staatsprojekt Europa in der Krise. Die EU zwischen autoritärer Verhärtung und linken Alternativen, Rosa-Luxemburg-Stiftung Büro Brüssel (Hrsg.), Brüssel.
Jensen, Inga/ Syrovatka, Felix (2013): Das Kapital walzt durch die Städte. Recht auf Stadt Kämpfe um Wohnraum werden zum Kristallisationspunkt für linke Aktivität in Europa. in: analyse und kritik – Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 585, 43. Jhg. S. 25.
Gramsci, Antonio (2012): Gefängnishefte. 1. Auflage. Argument-Verl. Hamburg.
Oberndorfer, Lukas (2012): Die Renaissance des autoritären Liberalismus? Carl Schmitt und der deutsche Neoliberalismus vor dem Hintergrund des Eintritts der »Massen« in die europäische Politik, PROKLA 168.
Poulantzas, Nicos (2002): Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus. VSA-Verlag, Hamburg.
Ziltener, Patrick, (1999): Strukturwandel der europäischen Integration. Die Europäische Union und die Veränderung der Staatlichkeit, Münster.
Felix Syrovatka ist Mitglied des Arbeitskreises Europaforschung der Assoziation kritischer Gesellschaftsforschung, dessen Mitgliedern er für Anregungen zu diesem Text dankt.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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