Klärende Worte aus Brüssel
EU-Kommission verweist in neuem Handbuch auf bestehende Regeln bei Sozialansprüchen
In der Debatte um vermeintliche »Armutszuwanderung« bleibt der EU-Sozialkommissar Laszlo Andor rigide: »Diskriminierung wird geahndet«, sagte er am Montag in Brüssel. Er stellte einen mit den Mitgliedsstaaten erstellten Leitfaden vor, mit dem die nationalen Behörden einfacher ermitteln können, ob ein Antragsteller aus einem EU-Land Anspruch auf Sozialleistungen hat.
Dafür muss der »gewöhnliche Aufenthaltsort« festgestellt werden. Nach EU-Recht könne es nur einen solchen Ort geben und damit nur einen Mitgliedsstaat, der Leistungen der sozialen Sicherung zahlen muss. Mit dieser Klarstellung erhofft sich Andor wohl auch ein Ende der Forderungen zur Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit. »Das EU-Recht sieht eindeutige Schutzbestimmungen vor, die den Missbrauch der Sozialsysteme in anderen EU-Staaten verhindern sollen«, so Andor.
Er wehrte sich zudem gegen die Unterstellung, Brüssel dränge darauf, »Sozialleistungen vom ersten Tag an jedem zu gewähren«, und betonte, dass es keinen automatischen Anspruch gebe. Wenn aber ein Antrag auf Sozialleistungen auf Grundlage der bestehenden Regeln abgelehnt werde, müsse es eine Prüfung geben. Das ist nach der derzeitigen Gesetzeslage zum Beispiel in Deutschland nicht der Fall.
Der präsentierte Leitfaden ist die Reaktion auf die bereits im vergangenen Jahr in der EU wieder verstärkt aufgekommene Debatte über die Belastung der Sozialsysteme einzelner Mitgliedsstaaten. Vor allem deutsche Gemeinden hatten über die Zunahme sogenannter Armutseinwanderer aus den EU-Staaten Bulgarien und Rumänien geklagt. Angefacht wurde die Diskussion vor allem in den reichen Ländern Europas durch Inkrafttreten der Arbeitnehmerfreizügigkeit für Bulgaren und Rumänen mit dem Jahreswechsel. Großbritannien etwa will sich weigern, Arbeitslosengeld an Bürger der beiden Länder zu zahlen. Auch über die Streichung von Kindergeld für EU-Bürger wird in London debattiert.
Andor erinnerte dagegen daran, dass arbeitende EU-Bürger Sozialabgaben und Steuern zahlen. Daher sei es irrelevant, ob auch ihre Kinder in dem Land leben würden, in dem sie arbeiten. Der ungarische Ökonom befürchtet allerdings nicht, dass der Grundkonsens für das »fundamentale Prinzip der EU«, die Freizügigkeit für Beschäftigte, aufgegeben werden könnte.
Weitere Kritik an der EU-Kommission gab es dagegen aus den Reihen der CSU. Generalsekretär Andreas Scheuer sagte dem »Spiegel«, die Institution stelle einen »Freifahrtsschein in das deutsche soziale Sicherungssystem aus«. Der Chef des Arbeitnehmerflügels der SPD, Klaus Barthel, forderte im »Handelsblatt« eine »soziale Flankierung der Freizügigkeit auf dem Arbeitsmarkt und eine Dämpfung des Migrationsdrucks durch eine ausgeglichenere Wirtschaftsentwicklung«. Seite 8
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