Gesellschaftliche Realitäten
Benjamin Beutler verteidigt Evo Morales in der Kinderarbeitsfrage
Um den Jahreswechsel ging Deutschland plötzlich das entlegene Bolivien etwas an. »Morales findet Kinderarbeit akzeptabel«, betitelte der »Stern« seinen Beitrag zur betreffenden Debatte im Zehn-Millionen-Einwohnerland. Am Tag besinnlicher Bescherung schlug das Wochenmagazin mit triefiger Keule nach dem ersten indigenen Staatschef des Kontinents. Evo Morales, der als Kind im Ziegelwerk, einer Bäckerei und auf Argentiniens Zuckerrohrfeldern schuftete und eine Handvoll Geschwister an Armut, Hunger und Krankheit verlor, würde »harte körperliche Arbeit für Minderjährige« nicht »verwerflich« finden, hieß es im im Exportweltmeisterland entrüstet. Außerdem, wurde Morales zitiert, »fördere frühes Arbeiten das soziale Gewissen«.
Zweimal knapp daneben. Der Regierungschef im »ärmsten Land Südamerikas« - 2013 hat Bolivien Paraguay die rote Laterne überreicht - wurde falsch übersetzt. Ob Freud’sche Fehlleistung oder publizistische Bosheit, statt vom »Gewissen« eines Kirchenpredigers hatte der Staatschef im Marx´schen Sinne vom »gesellschaftlichen Bewusstsein« gesprochen. Ein blindes Verbot von Kinderarbeit für unter 14-Jährige, wie von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) vorgeschrieben, wäre so, als würde der Gesetzgeber per Federstrich Wissen und Verständnis über Realität und Zwänge im eigenen Land ignorant in den Mülleimer treten.
Morales hat beides: Bewusstsein und Gewissen. Kinder sollen nicht arbeiten müssen: »Meine Erfahrung und Position ist, Arbeit von Mädchen und Jungen darf nicht verboten werden, aber sie dürfen nicht ausgebeutet oder dazu bewegt werden zu arbeiten. Manche arbeiten aus Notwendigkeit.« Darum stellte sich der Ex-Kokabauer nach einem Treffen mit Kinderarbeitergewerkschaftern gegen ein Mindestalter von 14 Jahren.
Dass der 54-Jährige aus La Paz ein »sozialistischer Präsident« ist, machte Skandalnachricht aus dem globalen Süden zur runden Story. Seht her, diese seltsamen Linken am anderen Ende des Globus, die wollen nicht nur eine bessere Welt! Die lassen ihre darbenden Kinder auch noch zum Arbeiten antreten!
Aber: Dank neuer Sozialprogramme für Kinder, Rentner und Mütter mit Geldern der 2006 verstaatlichten Bodenschätze ist extreme Armut auf dem Land um 20 Prozent gesunken. Millionen kamen aus der Armut heraus. Noch nie gingen so viele Kinder zur Schule. Armut, Erbe von Kolonialismus und Privatisierungswelle in den 1990ern bleiben das Problem. Im Bergbau, auf Feldern, Markt oder im Haushalt arbeiten 850 000 Kinder von fünf bis 17 Jahren, 491 000 davon unter 14. Mit dem geplanten Kindergesetz stärken die Sozialisten deren Rechte: zwei Stunden Schulbesuch bei Lohnfortzahlung, Equal Pay von Erwachsenen und Kindern, Pflichtmitgliedschaft in der Krankenversicherung. Doch davon liest man nichts.
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