Zwei Fotografien und tausende tragische Schicksale

Gedanken zum 90. Todestag von W. I. Lenin

  • Wladislaw Hedeler
  • Lesedauer: 4 Min.

Auf einem Foto aus dem Jahre 1897 ist er im Kreis von Kampfgefährten und Gründungsmitgliedern des Petersburger Kampfbundes zur Befreiung der Arbeiterklasse zu sehen. Hinter ihm stehen Alexander Maltschenko, Pjotr Saporoshez und Anatolij Wanejew, neben ihm sitzen Wassili Starkow, Gleb Krshishanowski und Julij Martow. Die Männer hatten zwei Tage Zeit, um ihre Abreise in die Verbannung, vorzubereiten. Sie nutzten die ihnen verbliebenen Abende, um über den Fortbestand des »Kampfbundes« zu sprechen. Dieser war aus einem illegalen Diskussions- und Lesezirkel mit einer Öffnung in das proletarische Milieu hervorgegangen und unterschied sich wesentlich von den marxistischen Salons, in denen Studenten und Intellektuelle damals zusammentrafen.


Link zu den Fotos: nd-EPaper


Das erwähnte Gruppenfoto wurde 1920 zum ersten Mal publiziert. Zwei der Männer auf dem Foto, Saporoshez und Wanejew, überlebten die Haft bzw. Verbannung im Zarenreich nicht. Martow ging später aus Protest gegen die Politik der Bolschewiki ins Exil und starb 1923 in Berlin. Der Ingenieur Maltschenko wurde 1929 von Stalins politischer Polizei OGPU als »Konterrevolutionär« verhaftet und am 18. November 1930 in Moskau erschossen. Daher fehlt er auf dem in den 1930er Jahren veröffentlichten Foto. Der Revolutionär, der Lenin einst vor der Ochrana, der Geheimpolizei des Zaren, versteckt hatte, ist wegretuschiert worden.

Sechs anderen Gründungsmitgliedern des »Kampfbundes zur Befreiung der Arbeiterklasse« erging es ähnlich: Boris Sinowjew starb in der Verbannung; Boris Gorew wurde 1937 vom NKWD erschossen; Jakow Ljachowskij starb im US-amerikanischen Exil. Ein natürlicher Tod war Appolinaria Jakubowa, W. Katin-Jarzew und Wassili Starkow vergönnt, die sich den Menschewiki angeschlossen und nach 1917 aus dem politischen Leben zurückgezogen hatten. Nur einer aus der Gruppe überlebte alle, selbst Stalin: Gleb Krshishanowski starb 1959.

Zu den letzten Gruppenfotos mit Lenin aus dem Jahre 1922 gehört eine Aufnahme, die während einer Sitzung des Rates der Volkskommissare am 3. Oktober im Kreml gemacht wurde. Von den 55 Personen auf jenem Bild überlebten die meisten den von Stalin initiierten »Großen Terror« nicht. Lenins Mitstreiter Lew Kamenew und Grigori Sinowjew wurden nach einem Schauprozess 1936 erschossen. Dieses Foto, auf dem auch ihr Ankläger Andrei Wyschinski zu sehen ist, wurde erst 1997 wieder unbeschnitten und ohne Retuschen veröffentlicht.

Die Geschichte dieser zwei, nach jahrzehntelanger Verfälschung wiederhergestellten Fotos ist Teil einer historisch-kritischen Rekonstruktion des Leninschen Erbes in Russland. Das Mausoleum auf dem Roten Platz und der Skulpturenpark in Moskau mit seinen aus dem Stadtzentrum entfernten Denkmalen erinnern auf unterschiedliche Weise an die Zeit, da Wladimir Iljitsch Uljanow alias Lenin als Säulenheiliger verehrt worden ist.

Er geht nicht darum, ihn vom Sockel zu stoßen, wie dies unlängst Demonstranten in Kiew versuchten. Er sollte in seine Zeit und neben seine Kampfgefährten gestellt werden, eingedenk ihrer Leistungen und Irrtümer. In Moskau sitzt derzeit Wladlen Loginow am dritten und letzten Band seiner Lenin-Biografie. Es erscheinen Werkausgaben der Anhänger und Kritiker Lenins innerhalb der russischen kommunistischen Partei, so der Ökonomen Nikolai Bucharin und Jewgeni Preobrashenski. Die beide hatten 1919 gemeinsam das »ABC des Kommunismus« verfasst. Im Streit über die Neue Ökonomische Politik trennten sich jedoch ihre Wege. Eine Dokumentenedition zur Geschichte der russischen Parteien, die zu Lebzeiten Lenins agierten, ist auf mittlerweile über dreißig Bände angewachsen. Langsam aber stetig wächst die Edition Russisches Revolutionäres Archiv, die an Leben und Werk von Uljanows vorrevolutionären Kampfgefährten wie auch Opponenten - von Georgi Plechanow über Pawel Axelrod bis hin zu Alexander Potressow - erinnert. Weitere Kärrnerarbeit ist zu leisten, um ein vollständiges und historisch gerechtfertigtes Bild von Lenin als Theoretiker der Revolution und als Techniker der Macht zu gewinnen.

Der am 21. Januar 1924 in Gorki bei Moskau - auch an den Spätfolgen des Attentats der Sozialrevolutionärin Fanny Kaplan 1919 - gestorbene Führer der Bolschewiki hat viel erreicht, nur entsprach das Erreichte »nicht dem, was er zu verwirklichen angetreten war«, wie Wolfgang Ruge dereinst treffend bemerkte. Der 2006 verstorbene Potsdamer Historiker und »nd«-Autor hinterließ eine nach wie vor lesenswerte Biografie Lenins, die sachlich und kritisch dessen Größe und Schwächen vermerkt.

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Von Dr. Wladislaw Hedeler erschien 2013 im Berliner Karl Dietz Verlag »Lenin oder: Die Revolution gegen das ›Kapital‹« (144 S., br., 9,90 €). Unser Autor gab 2010 mit Eugen Ruge die Lenin-Biografie von Wolfgang Ruge posthum heraus: »Lenin. Vorgänger Stalins. Eine politische Biografie« (Matthes & Seitz, 470 S., geb., 29,90 €).

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