An der Schwelle zur Gesellschaft

Schimpansen, die mit Artgenossen ihre Nahrung teilen, produzieren mehr Oxytocin. Dieses Hormon stärkt nachweislich die Bindung innerhalb der Gruppe

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 5 Min.

Das Neuropeptid Oxytocin ist umgangssprachlich auch als »Kuschelhormon« bekannt. Denn es wird vom Hypothalamus des Gehirns immer dann vermehrt ausgeschüttet, wenn Menschen angenehme Körperkontakte pflegen, sich etwa streicheln, küssen oder umarmen. Das dadurch erzeugte Wohlgefühl trägt unter anderem dazu bei, die emotionale Bindung zwischen den beteiligten Personen zu stärken. Es kann sich hierbei um Mutter und Kind handeln, um zwei Verliebte oder um Menschen, die freundschaftlich eng miteinander verbunden sind.

Ohne diesen Mechanismus wären die Sozialgefüge, in denen Menschen leben, vermutlich viel weniger stabil und hätten sich im Laufe der Geschichte rascher wieder aufgelöst. Bedenkt man zudem, dass Menschen überall auf der Welt komplexe Gesellschaften formen, liegt der Schluss nahe, dass ihre Fähigkeit zur sozialen Bindung evolutionäre Wurzeln hat und mithin auch bei unseren nächsten lebenden Verwandten, den Schimpansen, zumindest in Ansätzen vorhanden sein muss.

Tatsächlich verbringen Schimpansen viel Zeit mit gegenseitiger Fellpflege. Und sie tun das nicht nur, um andere Tiere der Gruppe von Schmutz und lästigem Ungeziefer zu befreien. Das bisweilen über Stunden praktizierte Ritual - in der Fachsprache »Grooming« genannt - dient überdies dazu, Freundschaften zu pflegen, Allianzen zu schmieden oder sich die Hilfe anderer Gruppenmitglieder zu sichern. Auch dabei spielt das Hormon Oxytocin eine wichtige Rolle, wie Roman Wittig und seine Kollegen vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie bei wildlebenden Schimpansen im Budongo Forest Reserve in Uganda festgestellt haben. Die Wissenschaftler machten sich dabei die Tatsache zunutze, dass Oxytocin inzwischen auch im Urin von Menschen und Menschenaffen gemessen werden kann. Das Ergebnis der im letzten Jahr durchgeführten Untersuchung war insofern überraschend, als schon nach einer Fellpflege von einigen Minuten die Oxytocin-Konzentration im Urin der Schimpansen anstieg. Und zwar umso mehr, je näher sich die groomenden Tiere standen, wobei Verwandtschaftsverhältnisse in diesem Zusammenhang ohne Bedeutung waren.

Aber nicht nur bei der gegenseitigen Fellpflege produziert das Gehirn von Schimpansen Oxytocin. Wie Wittig und seine Kollegen jetzt in den »Proceedings of the Royal Society B« (DOI: 10.1098/rspb.2013.3096) berichten, geschieht das auch, wenn die Tiere einen Teil ihrer Nahrung mit Artgenossen teilen. Für ihre Untersuchungen wählten die Forscher erneut die Schimpansen vom Budongo-Schutzgebiet in Uganda. Bei 26 Tieren entnahmen sie insgesamt 79 Urinproben - und zwar innerhalb einer Stunde nach der geteilten bzw. ungeteilten Mahlzeit, denn länger ist Oxytocin im Urin nicht nachweisbar.

Ergebnis: Bei Schimpansen, die ihre Nahrung mit anderen Gruppenmitgliedern geteilt hatten, war der Oxytocinspiegel im Urin wesentlich höher als bei Tieren, die ihre Mahlzeit für sich allein beanspruchten. »Dabei spielte es keine Rolle, wer Futter gegeben und empfangen hat, oder ob die Tiere miteinander verwandt waren oder nicht«, sagt Wittig. Und auch die Art der geteilten Nahrung habe keinen Einfluss auf die Variation der Oxytocinwerte gehabt.

Wie enorm wichtig das Teilen von Nahrung für die emotionale Befindlichkeit von Schimpansen ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass der Oxytocinspiegel hierbei stärker ansteigt als bei der Fellpflege. »Futter mit anderen zu teilen könnte ein Schlüsselverhalten für den Aufbau sozialer Beziehungen unter Schimpansen sein«, so Wittig. Denn diese Art von tierischer Solidarität ist sowohl für den Spender als auch für den Empfänger von Vorteil und somit geeignet, eine kooperative Beziehung zwischen beiden zu begründen.

Die Max-Planck-Forscher vermuten, dass beim Teilen der Nahrung die gleichen neurologischen Schaltkreise aktiviert werden wie bei der Festigung der Mutter-Kind-Beziehung während des Stillens. Tatsächlich liegt die Ähnlichkeit beider Verhaltensweisen auf der Hand, denn auch die Mutter teilt beim Stillen gewissermaßen Nahrung mit ihrem Kind. »Zunächst entstand dieser Mechanismus, um die Mutter-Kind-Bindung über das Abstillen hinaus zu festigen«, meint Wittig. »Die Funktion, kooperative Beziehungen zwischen nicht miteinander verwandten Individuen aufzubauen und zu erhalten, könnte dann später hinzugekommen sein.«

Ob und wie weit diese Ergebnisse auch für das menschliche Sozialleben von Bedeutung sind, wollen die Wissenschaftler als Nächstes untersuchen. Denn noch ist unklar, ob der Oxytocinspiegel bei Menschen, die mit anderen ihre Nahrung teilen, tatsächlich höher ist als bei Personen, die ein Essen ungeteilt für sich beanspruchen. Die lateinischen Wurzeln des Wortes »Kumpan« (com = mit, panis = Brot) deuten zumindest darauf hin, dass ein gemeinsames, sprich geteiltes Essen für den Aufbau menschlicher Beziehungen vormals eine nicht unwichtige Rolle spielte.

Einen dazu passenden Fund machte vor einigen Jahren ein internationales Forscherteam um den Zürcher Anthropologen Christoph Zollikofer. In Georgien gruben die Wissenschaftler die fossilen Überreste eines 1,8 Millionen Jahre alten Frühmenschen aus, der offenkundig schon länger vor seinem Tod die Zähne verloren hatte. Aus den in der Umgebung des Schädels entdeckten Steinwerkzeugen geht überdies hervor, dass die anderen Mitglieder der Horde Fleisch verzehrten und Tierkadaver verarbeiteten, um die langen Winter im georgischen Bergland zu überstehen.

Wie aber gelang dies dem zahnlosen Frühmenschen? Es ist vermutlich nicht auszuschließen, dass einige gesunde Mitglieder der Gruppe für ihn die zähe Fleischnahrung vorkauten. Durch diese Art der Nahrungsteilung, die womöglich ebenfalls zu einer emotionalen Bindung zwischen Geber und Empfänger führte, entstand ein neuer Evolutionsfaktor. Denn zahlreiche Individuen, die vorher unweigerlich verhungert wären, überlebten nun und stärkten mit ihren oft außergewöhnlichen Fähigkeiten das kreative Potenzial der Gruppe. Weil diese daraufhin neue Ressourcen erschließen konnte, war sie häufig im Vorteil gegenüber konkurrierenden Sozialverbänden, die Kranke und Behinderte nicht umsorgten.

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