Vorurteile, wenig Sachkenntnis
Die Debatte um den neuen Bildungsplan in Baden-Württemberg zeigt, dass der Widerstand gegen die sexuelle Aufklärung an Schulen in Deutschland nach wie vor groß ist
Auch nach dem Outing des ehemaligen Fußballnationalspielers Thomas Hitzlsperger sorgt die Frage, ob Homosexualität ein Thema für den Schulunterricht sei, in Baden-Württemberg für heftige Diskussionen. Anlass ist der »Bildungsplan 2015« der grün-roten Landesregierung, der die »Akzeptanz sexueller Vielfalt« als fächerübergreifendes Lernziel im Unterricht festschreibt. Um gegen diese, wie er meint, »moralische und ideologische Umerziehung« von Jugendlichen zu protestieren, hat ein Realschullehrer aus Nagold im Schwarzwald eine Petition ins Netz gestellt, die inzwischen über 150 000 Menschen unterschrieben haben. Eine Überraschung ist das nicht, denn in Deutschland tut man sich traditionell schwer mit sexueller Frühaufklärung und dies vor allem dann, wenn etwas außerhalb der vermeintlich heterosexuellen Norm liegt.
Die Gründe dafür reichen zurück bis zum Beginn des Sexualkundeunterrichts in Deutschland. Bereits im Jahr 1900 wurde an preußischen Schulen eine Art Sexualkundeunterricht eingeführt. Dieser diente allerdings nicht der Aufklärung, wie man sie heute versteht. Was den Staat vielmehr beunruhigte, waren die sich besonders in den Städten rasch ausbreitenden Geschlechtskrankheiten. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, sollten bereits die Heranwachsenden vor den, wie es hieß, »Gefahren einer freizügigen Sexualität« gewarnt und zugleich ermuntert werden, so lange wie möglich Triebverzicht zu üben.
Nach einer kurzen Phase der relativen sexuellen Freizügigkeit während der Weimarer Republik, die auch vielen Schwulen und Lesben zugute kam, zogen die Nazis die Schrauben wieder an. Ihr besonderes Augenmerk galt der sogenannten Sexualhygiene, die vielfach rassistisch geprägt war und darauf zielte, »abweichendes Sexualverhalten« wie Prostitution oder Homosexualität öffentlich zu diskriminieren und zu ahnden.
Dass auch in der Bundesrepublik lange eine repressive Sexualerziehung dominierte, war vor allem den Kirchen geschuldet, die sich jeglicher Forderung nach einer sexuellen Liberalisierung konsequent widersetzten. Im Schulunterricht kam das Thema Sexualität deshalb nicht vor, es sei denn im Fach Religion, wo Lehrer den aberwitzigen Versuch unternahmen, Sexualethik ohne Sexualwissen zu vermitteln. Der erhobene Zeigefinger war auch das Markenzeichen sogenannter Aufklärungsschriften, in denen man noch in den 1950er Jahren lesen konnte, dass Masturbation eine unreife und pathologische Form der Sexualität sei. Und auch Homosexualität wurde, sofern man überhaupt öffentlich darüber sprach, als Krankheit eingestuft. Es dauerte übrigens bis 1992, ehe die Weltgesundheitsorganisation die Homosexualität aus dem Diagnosekatalog der psychischen Erkrankungen entfernte.
In anderen Bereichen ging die sexuelle Liberalisierung rascher vonstatten. Bereits 1968 wurden an bundesdeutschen Schulen der Sexualkundeunterricht und als einheitliches Lehrbuch der Atlas für Sexualkunde eingeführt. Zäher Widerstand kam schon damals aus Baden-Württemberg, wo das Thema Sexualität nur dann im Unterricht angesprochen werden durfte, wenn Kinder danach fragten. Es habe lange gedauert, sagt Karla Etschenberg von der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtserziehung, bis in Baden-Württemberg, ähnlich wie in anderen Bundesländern, die Notwendigkeit einer sexuellen Aufklärung grundsätzlich anerkannt worden sei.
Auch in der DDR fand die Sexualerziehung zunächst nur wenig Beachtung. Denn dass Jugendliche ihre sexuellen Vorlieben gewissermaßen im Selbstversuch erkundeten, so wie von linken Reformpädagogen einst gefordert, war nicht erwünscht. Vielmehr sollten Sex und Erotik an eine Liebespartnerschaft gebunden sein. Zwar wurde in den 1960er und 1970er Jahren die sexuelle Aufklärung an den Schulen intensiviert, das Tabu Homosexualität jedoch nicht berührt. Noch 1973 warnte ein DDR-Wissenschaftler Jugendliche davor, sich in die Gesellschaft von Homosexuellen zu begeben. Elf Jahre später bat er für diese und ähnliche Worte öffentlich um Entschuldigung.
Nur langsam setzte sich in Wissenschaft und Politik die Auffassung durch, dass Homosexualität eine Normvariante und keine abweichende Form des Geschlechtslebens ist. Anders als in der BRD wurde Homosexualität unter Erwachsenen in der DDR ab 1957 nicht mehr verfolgt und der entsprechende §175 des Strafgesetzbuches 1968 abgeschafft. An seine Stelle trat der §151, der eine Strafe nur noch für homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen und Jugendlichen unter 18 Jahren vorsah. Aber noch vor dem Ende der DDR, im Dezember 1988, fiel auch dieser diskriminierende Paragraph und mit ihm jede strafrechtliche Bestimmung, die ausschließlich Menschen mit homosexueller Orientierung betraf. Auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik geschah dies erst sechs Jahre später.
Dass das Thema Homosexualität schließlich Eingang in den Schulunterricht fand, war vor allem eine Folge der sich rasch ausbreitenden Immunschwächekrankheit Aids. Und obwohl im Zuge der gesundheitlichen Aufklärung fortan kein sexuelles Verhalten mehr abgewertet wurde, war der Unterricht vielerorts nicht dazu angetan, Offenheit und Toleranz gegenüber Schwulen und Lesben zu fördern. Bis heute verhindern neben Vorurteilen vor allem fehlende Kenntnisse eine sachliche Diskussion über Homosexualität. Laut einer 2010 veröffentlichten Umfrage erfahren nur rund 35 Prozent der Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren im Unterricht überhaupt etwas über gleichgeschlechtliche Lebensformen.
Dafür ist Homophobie an deutschen Schulen nach wie vor weit verbreitet und werden Wörter wie »schwule Sau« oder »Kampflesbe« benutzt, um andere zu diskriminieren. All das bleibt nicht ohne Folgen, wie aus einer Studie der Universität Zürich hervorgeht. Danach hat jeder fünfte Homosexuelle schon einmal versucht, sich das Leben zu nehmen. Besonders suizidgefährdet sind junge Schwule während ihres Coming Outs und damit häufig zu einer Zeit, da die Schule für sie einen prägenden Lebensmittelpunkt bildet.
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