Indiens scheuer Prinz
Kann Rahul Gandhi seine Kongresspartei vor einer Wahlniederlage bewahren?
Als aggressiv, sarkastisch, ironisch, witzig beschrieb der »Indian Express« dieser Tage Rahul Gandhi. Noch vor ein paar Wochen hätte es lächerlich angemutet, dem 43-Jährigen solche Attribute zuzuschreiben. Bis zum 17. Januar galt der Gandhi-Spross als scheu, langweilig, zurückhaltend, unsicher auf dem rutschigen Parkett indischer Politik. Doch an jenem Tag »explodierte« der Urenkel Jawaharlal Nehrus, des ersten Premiers im unabhängigen Indien, der Enkel der 1984 ermordeten Indira Gandhi und Sohn des 1991 ermordeten Rajiv Gandhi vor den Delegierten einer Konferenz des Allindischen Kongresskomitees. Rahuls Mutter Sonia, aus Italien stammend, leitet den Indischen Nationalkongress (Kongresspartei).
Mit Spannung hatten die Kader der ältesten Partei Indiens den Auftritt ihres Vizepräsidenten erwartet. Am Vorabend war er zum Wahlkampfchef der Kongresspartei ernannt worden. Im April/Mai wird das 1,2-Milliarden-Volk ein neues Parlament wählen. Als Leiter des Wahlkampfes ist Rahul, auch wenn seine Mutter eine offizielle Nominierung als Spitzenkandidat verhinderte, im Falle eines Sieges erster Anwärter auf das Amt des Premiers.
Jedenfalls erlebten die Delegierten einen Rahul, den sie noch nicht kannten. Als habe ihm jemand - vielleicht seine energische Schwester Priyanka, die nach verbreiteter Ansicht eher das Zeug zum Premier hätte - einen Rippenstoß versetzt! Er argumentierte spritzig und hielt nach Einschätzung der Zeitung »The Hindu« eine inhaltsreiche, kämpferische Rede, gespickt mit Visionen und Gefühl, mit Herz und Verstand. Erstmals bekannte er sich vorbehaltlos dazu, die Führung übernehmen zu wollen, mit seinen Mitstreitern durch dick und dünn zu gehen, als »Parteisoldat jeden Auftrag anzunehmen«. Bis dahin hatte er höflich alle Aufforderungen überhört, auch nur ein Ministerium zu übernehmen.
Stattdessen widmete er sich der Parteiorganisation und besonders deren Jugendverband. Offensichtlich will er eine Brigade engagierter und gebildeter junger Männer und Frauen fit machen für Regierungsaufgaben. Sie müsse den Stab übernehmen. Ähnliches hatte der scheidende 81-jährige Premierminister Manmohan Singh zu Jahresbeginn verlangt. Finanzminister Chidambaram griff Rahuls Gedanken sofort auf und empfahl, mindestens die Hälfte aller Kongresspartei-Kandidaten fürs Parlament sollte unter 35 Jahre alt sein, weil die Jugend Visionen für den multireligiösen Vielvölkerstaat habe. In Davos auf dem Weltwirtschaftsforum erklärte er jetzt, der junge Gandhi habe »genug Feuer im Leib«, Indien als Premierminister zu regieren.
Mit Blick auf seinen Rivalen Narendra Modi von der hindunationalistischen Indischen Volkspartei (BJP), der sich seit Monaten als »starker Mann« präsentiert, wetterte Rahul: »Demokratie ist keine Einmannherrschaft.« Wohl habe die BJP eine clevere Vermarktungstaktik: Rhetorik, Glitzern, Tanz und Gesang. »Sie verkaufen Kämme an Glatzköpfe«, sagte Gandhi. Die Kongresspartei aber habe eine Philosophie, die auf Gerechtigkeit und Würde des Einzelnen ziele. »Wir sind Kämpfer und gehen erhobenen Hauptes in die Schlacht.« Die bevorstehende Wahl markiere einen »Wendepunkt in der Geschichte der Nation«. Darin stimmt ihm sogar Modi zu, der es freilich ganz anders meinte, als er die »Morgenröte einer neuen Ära« sichtete. Narendra Modi attackiert die Gandhi-Familie und die Kongresspartei seit Monaten mit ätzender Kritik und macht besonders gern Rahul lächerlich. Anfangs nannte er ihn »Batscha«, ein unerfahrenes Kind, dann »Prinz« in Anspielung auf die Nehru-Gandhi-Dynastie. In Umfragen liegt der Chefminister des Unionsstaates Gujarat, der mit seiner Herkunft als Teeverkäufer hausieren geht, weit vor dem Prinzen.
Ob am 17. Januar der »wahre Rahul« zum Vorschein gekommen ist, bleibt abzuwarten. Der geborene Redner und Politiker ist er nicht. Interviews gibt er nicht, seltene Pressekonferenzen fallen meist kurz aus. Über seinem Privatleben hängt ein Schleier. Bekannt ist, dass er in Florida studierte und bis 2002 als Finanzberater in London arbeitete. Damals soll er mit einer kolumbianischen Schönheit befreundet gewesen sein. Jetzt heißt es, er sei mit einer Spanierin liiert, die in Venezuela als Architektin arbeitet. In Indien ist die Geheimnisvolle noch nicht aufgetaucht.
Rahul Gandhi wird es schwer haben, sich gegen Modi zu behaupten. Überdies ist der Kongresspartei ein weiterer Herausforderer erwachsen: die Aam Aadmi Party (Partei des kleinen Mannes). Im Hauptstadtterritorium Delhi traf sie mit ihrem Kampf gegen Bestechungspraktiken den Nerv vieler Wähler, jetzt stellt sie die Regierung des Territoriums.
Eine Abwahl der Kongresspartei ist nicht unwahrscheinlich. Sie büßte in den vergangenen zwei Jahren deutlich an Boden ein. Unter globalem Einfluss kam Sand ins indische Wachstumsgetriebe: Die Inflation begann zu galoppieren, Währungsreserven schwanden, die Rupie verlor enorm an Wert, die Balance zwischen Im- und Exporten geriet in Schräglage. Dazu hängen der regierenden Vereinten Progressiven Allianz etliche Korruptionsskandale wie Mühlsteine am Hals. Aber Indiens Wählerschaft ist bekannt für Überraschungen. Teeverkäufer oder Prinz? Die Frage wird in ein paar Monaten beantwortet.
»Sie verkaufen Kämme an Glatzköpfe«, sagt Rahul Gandhi über seine Konkurrenten von der hindunationalistischen Indischen Volkspartei. Seine Kongresspartei aber habe eine Philosophie, die auf Gerechtigkeit und Würde des Einzelnen ziele. »Wir sind Kämpfer und gehen erhobenen Hauptes in die Schlacht.«
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