Polizeistaat mit Berichtspflicht
»Gefahrengebiet«: Hamburger SPD-Bürgerschaft überlässt Grundrechte dem Sicherheitsapparat / Zweifel an »Attacke« auf Beamte wachsen
Die Hamburger Polizei darf auch weiterhin nach Gutdünken über die Einrichtung von sogenannten Gefahrengebieten entscheiden, in denen Personen auch ohne konkreten Verdacht kontrolliert, festgesetzt oder des Stadtteils verwiesen werden können. Grüne und Linkspartei scheiterten am Donnerstag in der Bürgerschaft mit Anträgen, die diese Praktik unterbinden wollten.
Parlamentarische Beschlüsse oder auch nur eine richterliche Anordnung sind in Hamburg weiterhin nicht nötig, um in ganzen Stadtgebieten grundlegendste Bürgerrechte außer Kraft zu setzen. Nach dem Willen der allein regierenden SPD sowie der oppositionellen CDU muss die Polizei die Bürgerschaft künftig lediglich im Nachhinein darüber informieren, wo sie derartige Gefahrengebiete eingerichtet hat. So ließen sich »die regelmäßigen Möglichkeiten parlamentarischer Kontrolle auch dieser Maßnahme weiter (...) verbessern«.
Die Linksfraktion hatte in einem Antrag gefordert, den derartige Maßnahmen ermöglichenden Passus im »Gesetz über die Datenverarbeitung der Polizei« (PolDVG) zu streichen - oder zumindest erheblich zu modifizieren; als Minimum sollte nach ihrer Vorstellung bei »Gefahrengebieten« von einer Dauer von weniger als 48 Stunden ein Richter und bei mehr als 48 Stunden das Parlament seine Zustimmung geben müssen.
Zudem, erläutert LINKE-Fraktionssprecher Florian Kaiser, gehe es nicht an, dass die Polizei derartige »Gefahrengebiete« nicht sofort bekannt gibt. Jedes Verwaltungshandeln müsse sich in einem Rechtsstaat öffentlich vollziehen - damit Bürger wissen, wann und wo sie sich in einer Zone möglicherweise eingeschränkter Grundrechte bewegen - und womöglich dagegen vorgehen können.
Nach Angaben der Hamburger LINKEN hat die Polizei in den vergangenen Jahren über 40-mal in aller Stille zu diesem Mittel gegriffen. Dabei seien »mehrere Hunderttausend verdachtsunabhängige Maßnahmen« durchgeführt worden.
Die jetzt gewährte nachträgliche Überprüfung von »Gefahrengebieten« nach »Unterrichtung« durch die Polizei reiche bei Weitem nicht aus. Die Erfahrung lehre, so die LINKE-Innenexpertin Christiane Schneider, »dass das Verwaltungsgericht Hamburg bereits häufiger Einsätze der Polizei als rechtswidrig beurteilt hat, ohne dass die Hamburger Polizeiführung daraus Konsequenzen« habe ziehen müssen. Bei derzeitiger Gesetzeslage sei die Gewaltenteilung weitgehend aufgehoben, nicht einmal »Mindestanforderungen von Rechtsstaatlichkeit« würden gewährleistet.
Unterdessen wachsen die Zweifel an der polizeilichen Darstellung der Vorgänge am Abend des 28. Januar vor der »Davidwache« an der Reeperbahn weiter. Besonders die Behauptung, es habe sich bei der fraglichen Gruppe um Linksradikale gehandelt, wird in seriösen Zeitungen nicht mehr erhoben. Dabei hatte die Polizei im »Gefahrengebiet« ganz gezielt nach vermeintlichen Linken gesucht.
Außerdem sind weitere, diesmal auch nicht anonyme Zeugenaussagen aufgetaucht, die den fraglichen »Angriff« auf drei Beamte der Davidwache differenzierter erscheinen lassen. Die Eskalation sei demnach von einem Polizisten ausgegangen, der ein Mitglied der bereits in »gelöster Stimmung« an der Wache vorbeigezogenen Fußballfan-Gruppe »unbedacht« und ohne ersichtlichen Grund von hinten angesprungen und zu Boden geworfen habe.
Selbst die Staatsanwaltschaft, die noch bei der Polizeiversion bleibt, lässt ein Hintertürchen offen, wenn sie von »dynamischen Ermittlungen« spricht, die sich »entwickeln«. Von »Spiegel Online« bis zum »Abendblatt« wird über die vermeintlich gezielte Attacke auf die Polizisten, von denen einer einen Kieferbruch erlitt, im Konjunktiv geschrieben.
Einzig für »Bild« ist die Sache weiter klar: »Staatsschützer und Fahndungsexperten des LKA sind nach BILD-Informationen dem Rädelsführer der rund 40 Mann starken Gruppe auf der Spur, die am 28. Dezember hinterhältig Polizisten der Davidwache angegriffen hatte«, dröhnt der Boulevard noch dieser Tage im selbstsichersten Indikativ. Ab jetzt werde es »eng für die linken Chaoten«!
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