Daniil Granin erinnert an Belagerung Leningrads

Gedenkstunde im Bundestag für Holocaust-Opfer / Lammert ruft zu Verteidigung der Demokratie auf: »In Deutschland ist Intoleranz nicht mehr tolerierbar«

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Berlin. Zum Holocaust-Gedenken im Bundestag hat Parlamentspräsident Norbert Lammert (CDU) zur Verteidigung der Demokratie aufgerufen. Die Morde des neonazistischen NSU an Migranten, die von rassistischen Parolen begleiteten Proteste gegen Flüchtlingsheime und antisemitische Straftaten in Deutschland forderten »unsere rechtsstaatliche, politische und zivilgesellschaftliche Gegenwehr als Demokraten heraus«, sagte Lammert am Montag in einer Sondersitzung des Bundestags in Berlin. »In Deutschland jedenfalls ist Intoleranz nicht mehr tolerierbar.«

Die Gedenkrede hielt der russische Schriftsteller und Zeitzeuge Daniil Granin. Der 95-Jährige kämpfte als Freiwilliger im Zweiten Weltkrieg und überlebte die Blockade von Leningrad. Granin berichtete von seinen persönlichen Erinnerungen an die 900-tägige Belagerung seiner Heimatstadt und aus Aufzeichnungen und Interviews anderer Zeitzeugen. Er sprach von »katastrophalen Ereignissen«, die sich schon sehr bald nach Beginn der Belagerung in Leningrad eingestellt hätten. Es habe in der Stadt keinen Strom, kein Wasser und kein Gas mehr gegeben. Es sei zu tagelangen Bränden gekommen, weil nicht einmal Löschwasser vorhanden gewesen sei. Die Lebensmittelversorgung sei katastrophal gewesen. Täglich seien mehrere tausend Menschen vor Hunger gestorben.

»Der Tod war jemand, der schweigend seine Arbeit tat in diesem Krieg«, sagte Granin in seiner rund 40-minütigen bewegenden Rede. Er habe bei seinen damaligen Besuchen als Soldat in der Stadt gesehen, wie sich die Verhältnisse während der Blockade immer weiter verschlimmerten. Er habe den Deutschen lange nicht verzeihen können, die auf die Kapitulation der Stadt gewartet hätten.

Bundespräsident Gauck hatte anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung Leningrads bereits zuvor dazu aufgerufen, die Schrecken von damals nicht zu vergessen. »Der Zweite Weltkrieg hat tiefe Wunden im Verhältnis zwischen unseren Ländern hinterlassen«, schrieb Gauck in einem am Montag veröffentlichten Schreiben an den russischen Präsidenten Wladimir Putin. »Es bleibt unsere Aufgabe, die Erinnerung an das Leid, das Deutsche Russen angetan haben, wachzuhalten«, schrieb Gauck weiter. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) erinnerte daran, dass während der Belagerung der russischen Stadt mindestens 800.000 Menschen ums Leben kamen, wahrscheinlich sogar mehr als eine Million. Leningrad habe als Stadt vernichtet werden sollen.

Zugleich gedachte Lammert aber auch allen weiteren Opfergruppen, die während der NS-Gewaltherrschaft und des von Deutschland ausgegangenen Vernichtungskrieges Heimat, Gesundheit und Leben verloren hatten. Dazu zählten Juden, Sinti und Roma, Kranke und Behinderte, Homosexuelle, Zwangsarbeiter, Opfer der Kindertransporte, Kriegsgefangene und die zu »Untermenschen« degradierten slawischen Völker. Das Gedenken gelte auch all jenen, die in den Vernichtungslagern ermordet wurden sowie jenen, die verfolgt und getötet wurden, weil sie Widerstand leisteten oder anderen Schutz und Hilfe gewährten. »Uns treibt bis heute die Frage um, wie ist eine solche Entmenschlichung möglich geworden«, sagte Lammert.

Deutschland habe für die Erinnerung bis heute eine herausragende Verantwortung: »Nie wieder dürfen Staat und Gesellschaft zulassen, dass Menschen wegen ihrer Herkunft, ihrer Religion, ihrer politischen Einstellung, ihrer sexuellen Orientierung, wegen ihrer Andersartigkeit zum Feindbild einer schweigenden Mehrheit gemacht, verachtet, gedemütigt oder bedroht werden«, sagte der Bundestagspräsident. »In Deutschland ist Intoleranz nicht mehr tolerierbar«, sagte Lammert unter dem Beifall der Abgeordneten und Gäste der Gedenkstunde.

Musikalisch umrahmt wurde das Gedenken von einem polnischen Streichquartett, das Musik von Dmitri Schostakowitsch vortrug. Schostakowitsch hatte während der Belagerung Leningrads selbst in der Stadt gelebt. Die Gedenkstunde im Bundestag findet seit 1996 jährlich anlässlich des Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch russische Soldaten am 27. Januar 1945 statt. Agenturen/nd

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