Arbeitslosengeld ist die Ausnahme
Immer mehr Erwerbslose in Deutschland bekommen nur noch Hartz IV
Arbeitslos ist nicht gleich arbeitslos. Wer gerade seinen Job verloren hat und in den zwei Jahren davor mindestens zwölf Monate sozialversicherungspflichtig beschäftigt war, der hat Anspruch auf Arbeitslosengeld I (ALG I). Über den Daumen gepeilt sind das 67 bzw. 60 Prozent des letzten Bruttolohns minus Sozialversicherungspauschale, Lohnsteuer und Solidaritätszuschlag.
Wer aber länger als ein Jahr arbeitslos ist, verliert seinen Anspruch auf die Versicherungsleistung ALG I und rutscht in die steuerfinanzierte Grundsicherung, die der Volksmund schlicht Hartz IV nennt. Spätestens hier beginnt die Armut.
Eine aktuelle Studie der Universität Duisburg-Essen zeigt nun, dass immer weniger Arbeitslose das höhere ALG I beziehen. Demnach waren im Dezember 2013 mehr als zwei Drittel aller Menschen ohne Arbeit auf Hartz IV angewiesen. »Nur noch jeder Dritte erhält Arbeitslosengeld I«, heißt es in einer aktuellen Pressemitteilung des zur Uni Duisburg-Essen gehörenden Instituts für Arbeit und Qualifikation (IAQ). So habe die Arbeitslosenversicherung vor allem in Städten mit hoher Erwerbslosigkeit »drastisch an Bedeutung verloren«. Seit 2005 ist der Hartz-IV-Anteil bundesweit von 57 auf nun 67 Prozent gestiegen. In Nordrhein-Westfalen liegt er mit 73 Prozent sogar noch höher. Städte wie Duisburg, Herne und Dortmund liegen bereits über der 80-Prozent-Marke. Trauriger Spitzenreiter ist Oberhausen mit 84,2 Prozent.
Im Osten der Republik sieht es nicht besser aus. In Berlin liegt der Hartz-IV-Anteil bei 79,3 Prozent, in Cottbus bei 78,3 und in Brandenburg an der Havel bei 79,4 Prozent.
Studienautor Gerhard Bäcker sieht diese Entwicklung mit Sorge: »Über das Arbeitslosengeld abgesichert zu sein, ist damit eher zur Ausnahme geworden, obwohl es eine Versicherungsleistung ist, für die man Beiträge gezahlt hat«, kritisiert Bäcker. Stattdessen ist Hartz IV die Regel.
Auf den ersten Blick scheint dieser Trend nicht nachvollziehbar. Immerhin ist die Zahl der registrierten Arbeitslosen seit 2005 um 40,4 Prozent zurückgegangen. »Doch in derselben Zeit hat sich die Struktur der Arbeitslosigkeit verschlechtert«, so Studienautor Bäcker gegenüber »nd«. Der pensionierte Professor für Soziologie spricht von »Strukturverschiebungen«. So habe sich der Anteil der Langzeitarbeitslosen seit 2008 kontinuierlich erhöht und liege im Jahr 2013 bei über 36 Prozent. Das deckt sich mit Angaben der Bundesagentur für Arbeit, die im letzten Jahr etwa eine Million Menschen zählte, die seit Einführung der Grundsicherung 2005 auf staatliche Leistungen angewiesen seien. Viele der Dauerkunden weisen »Vermittlungshemmnisse« auf, das heißt, sie sind psychisch krank, verschuldet, alkohol- oder drogenabhängig. BA-Vorstand Heinrich Alt bezweifelte in der »Zeit«, ob die Grundsicherung »das richtige Hilfesystem ist«.
Bäcker bedauert gegenüber »nd«, dass sich aus den Daten der BA leider nicht ersehen lasse, wie lange die Hartz-IV-Betroffenen schon im Leistungsbezug seien. Denn bei weitem nicht alle Betroffenen sind langzeitarbeitslos.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hatte bereits 2012 kritisiert, dass jeder vierte Arbeitslose direkt nach dem Verlust seines Jobs in Hartz IV lande. Als besonders gefährdet gelten Leiharbeiter, da sie oft nur wenige Monate in einem Betrieb bleiben. Mehr als 45 Prozent von ihnen, die 2012 ihren Job verloren, wurden direkt zu Hartz-IV-Empfängern. Um das höhere ALG I zu erhalten, hätten sie mindestens zwölf Monate arbeiten müssen. »Die soziale Sicherungsfunktion der Arbeitslosenversicherung nimmt stetig ab«, konstatierte DGB-Experte Wilhelm Adamy damals in der »Süddeutschen Zeitung«.
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