Viele rechte Mordzellen neben dem NSU

Otto Schilys Innenministerium machte in absurder Sprachregelung Antifa-Gruppen für Radikalisierung verantwortlich

  • René Heilig
  • Lesedauer: 6 Min.
Wie konnte der NSU so unerkannt morden? Regierungsdokumenten belegen: Statt die Jenaer Bombenbastler und vergleichbare Terrorgruppen zu verfolgen, machte man Antifaschisten verantwortlich.

VP 598 war V-Mann, eine sogenannte Vertrauensperson des Berliner Landeskriminalamtes (LKA). Richtiger Name: Nick Greger. 1977 wurde der beim fränkischen Wunsiedel geboren, früh machte er in der Neonazi-Szene als Militanter von sich reden. Er trieb sich in Sachsen wie in Südafrika herum, kam nach Berlin, baute eine Bombe, wurde verhaftet, verurteilt, ging abermals ins Ausland, trat als Söldner in verschiedenen Ländern vor allem Afrikas in Erscheinung und setzte sich dann werbewirksam als Aussteiger in Szene.
Doch er ließ offenkundig nur eine Etappe seines rechtsextremistischen Daseins hinter sich. Greger wechselte die Form des Rassismus, gerierte sich als eine Art Tempelritter wider den Islam. Noch im Knast hatte er die Nähe der »Ulster Freedom Fighter« und deren Ikone Johnny Adair gesucht. Die Terrortruppe war gefürchtet in Nordirland. Gregers ideologische Grundlagen ähnelten dem des norwegischen Massenmörder Anders Breivik, beide hatten im liberianischen Bürgerkrieg Erfahrungen gesammelt. Greger versuchte den verurteilten Kameraden im Geist, der bei Anschlägen in Norwegen 77 Menschen ermordet hat, für seinen Orden 777 zu gewinnen.

Greger selbst macht im Gespräch kein Geheimnis um biografische Fakten. Nicht erwünscht war offenbar sein Dasein als Spitzel. Mindestens zwischen März und August 1996 hatte er eine Liaison mit dem Landesamt für Verfassungsschutz in Sachsen. Das war zu jener Zeit, als er dort eine Kameradschaft nach nordirischem Vorbild gründete und Mitglied der NPD wurde. Über diese Zeit muss sich der in Dresden tagende NSU-Untersuchungsausschuss noch kundig machen. Gregers Verhältnis zum LKA Berlin ist dagegen seit einigen Tagen öffentliches Gesprächsthema. Rekrutiert wurde »Duplo« – so nannte man den bulligen Glatzkopf in der Naziszene – in der Justizvollzugsanstalt Tegel. Beginn der Zusammenarbeit: 29. März 2001. Angeblich trennte man sich zwei Jahre später wieder von ihm.

Gregers erster V-Mann-Führer war der heutige Kriminalhauptkommissar T. Der Staatsschützer hatte seinen Schützling bereits ein gutes Jahr zuvor kennengelernt. Da wollte er Greger nach dem Strafrechtsparagrafen 129a von der Bundesanwaltschaft als Terroristen anklagen lassen. So steht es im »Bericht zu den Erkenntnissen aus den Vernehmungen GREGER«, der von der Abteilung Staatsschutz des Berliner LKA an den Oberstaatsanwalt Siegmund nach Karlsruhe gefaxt wurde. Der Eingangsstempel trägt das Datum 15. Juni 2000. Vorangegangen war eine Durchsuchung in Gregers Quartier in der Berliner Venusstraße am 10. Juni. Sie erfolgte per »Anordnung der Staatsanwaltschaft Potsdam wegen Gefahr im Verzuge nach Mitteilung durch BfV«.

Halten wir fest. Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) war offenbar der Tippgeber, und eine Brandenburger Staatsanwaltschaft wusste, dass in Gregers Keller eine funktionstüchtige Rohrbombe und Material zum Bau einer weiteren zu finden waren. Der damalige Kriminaloberkommissar T. erhielt von Greger im Verhör Hinweise auf eine »konspirative Kleinstgruppe« von sechs Neonazis, die »im Bereich Kgs-Wusterhausen« Bombenanschläge gegen »Linksextremisten« durchführen wollten. Das LKA teilte auch mit, dass der Inhaber eines Berliner Tatoo-Studios eine Waffe suchte und dass bei einem anderen Neonazi ein halbautomatisches Scharfschützengewehr mit Schalldämpfer und 300 Schuss Munition gefunden worden war. Ermittelt wurde, dass die Bande nicht auf Rache aus war, sondern »neue Zeichen« setzen wollte.

Die Fakten hätten zu einem Anti-Terrorverfahren nach Paragraf 129a führen müssen. Doch das blieb aus. Warum? Möglicherweise weil der erste Beschuldigte Carsten Szczepanski hieß. Der war Top-Zuträger des Brandenburger Verfassungsschutzes, Deckname »Piatto«. Die Information über Gregers Kellerinhalt stammt sicher von ihm. Szszepanski, der wegen eines rassistisch motivierten Mordversuchs im Gefängnis saß, bis er vom Geheimdienst herausgeholt wurde, unterhielt beste Kontakte zum Umfeld des Jenaer NSU-Terrortrios. Und er sollte offenbar Waffen beschaffen für die drei damals in Chemnitz untergetauchten Neonazis.

In Sachen »Piatto« ist einiges unklar. So gab der 1998 Hinweise darauf, dass das NSU-Trio sich nach »einem weiteren Überfall« nach Südafrika absetzen wollte. Seltsam nur, dass laut Anklage im Münchner NSU-Verfahren bis zu diesem Datum überhaupt noch kein Überfall verübt worden war. Und Südafrika? Da war Greger unterwegs, mit dem Auftrag, Quartiere und Trainingsstätten für Neonazi-Gruppen zu suchen. Noch seltsamer, dass im Oktober 2013 zwei Berliner LKA-Beamte bei Greger auftauchten, um ihm – wie der Neonazi behauptet – nahezulegen, kein Wort über »Piatto« vor einem Untersuchungsausschuss zu sagen. Innensenator Henkel aber sagt, Greger habe nicht das Geringste mit NSU zu tun.
Interessant sind Dokumente, die in den Frühsommertagen des Jahres 2000 im Bundesamt für Verfassungsschutz und im Bundesinnenministerium entstanden. Mit dem Beförderungsvermerk »sofort« teilt der Geheimdienst dem Bundesinnenministerium mit, das »einige wenige Gruppierungen« versuchten, sich eine »Struktur und Ausrüstung zu schaffen in der Absicht, gezielt gegen den politischen Gegner vorzugehen und bestimmte Anschlagsziele anzugreifen«.

Man sah Berlin und Brandenburg als Schwerpunkt, sprach über Waffenbeschaffung und Bombenherstellung. Auch in Göttingen habe es 1999 »im Ansatz« so eine »rechtsterroristische Gruppierung« gegeben. Wie im Berliner Fall hat der Generalbundesanwalt das als »allgemeinkriminelles Delikt« an die örtliche Staatsanwaltschaft zurückgegeben. Im Jahr 2000 entdeckte man vergleichbare Terror-Strukturen im niedersächsischen Meppen. Zu solchen Terrorgruppierungen muss man das Jenaer Neonazi-Trio Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe rechnen, die Anfang des Jahres 1998 untergetaucht waren, als man ihre Bombenwerkstatt entdeckte. Auch in diesem Fall lehnte der Generalbundesanwalt eine Übernahme der Ermittlungen ab.

Glaubt man dem Bundesverfassungsschutz und dem Bundesinnenministerium, so fehlte es den Neonazi-Kleingruppen zwar nicht an Mordwerkzeug, wohl aber hatten sie »kein politisches Konzept für einen bewaffneten Kampf«. Welch absurde Behauptung! Seit Anfang der 1990er Jahre gab es Combat 18, den bewaffneten Arm der Blood&Honour-Bewegung, und dessen Strategie.

18 steht für die Buchstaben im Alphabet – also die Gesinnung: A wie Adolf, H wie Hitler. Ex-V-Mann Greger beschwört gegenüber »nd«, dass er dem LKA über die Deutsche C18-Division berichten wollte. Die gab es, die Combat 18-Bande aus Pinneberg war nach dem Konzept des führerlosen Widerstandes unterwegs, die Skinhead Sächsische Schweiz hatte den Zellencharakter im Ansatz umgesetzt – diese Kameradschaften waren dem Wissen der Sicherheitsbehörden um Lichtjahre voraus. Oder doch nicht? (siehe Randspalte) Am 20. Juni 2000 hatte Berlins Innensenator Eckart Werthebach, ein Geheimdienstexperte mit CDU-Parteibuch, bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichtes so deutlich von »rechtem Terror« gesprochen, dass der »Tagesspiegel« titelte: »Neonazis – An der Schwelle zum Terrorismus«.

»Wegen Eilbedürftigkeit« wurde tags darauf zwischen einer Frau Pingel-Kießling (Bundesinnenministerium) und einem Herrn Baldus (BfV) telefoniert. Der Geheimdienst stellte dabei wunschgemäß fest: »Von einem bundesweiten Trend zur Bildung rechtsextremistischer Terroreinheiten kann jedoch nicht gesprochen werden.« Exakt diese Aussage setzte die ministerielle Oberregierungsrätin dann fett gedruckt an den Schluss eines Schreibens an den »Herrn Minister (damals Otto Schily, SPD). Man machte im BMI auch den Schuldigen an der Zuspitzung der Lage aus, denn es «zeichnet sich deutlich die Gefahr ab, dass Antifa-Aktionen einzelne Rechtsextremisten zusätzlich radikalisieren. Die militanten Rechtsextremisten oder Kleingruppen könnten sich zu »›Vergeltungsschlägen‹ entschließen.« Klartext: Die Linken sind schuld am Entstehen des Rechtsterrorismus. Das ist wahrlich infam!

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.