Move Forward. Die Veränderung hat begonnen
Alexis Tsipras über die Chancen der Linken, die Europawahl und eine bessere Zukunft
Wir leben in außergewöhnlichen Zeiten. Europa ist an einem kritischen Scheideweg angelangt, und es gibt zwei Richtungen, die es einschlagen kann: Entweder entscheiden wir uns für Stillstand oder wir bewegen uns vorwärts. Entweder wir finden uns mit dem neoliberalen Status quo ab und tun so, als könne die Krise mit derselben Politik gelöst werden, die sie hervorgerufen hat, oder wir machen uns mit der europäischen Linken daran, die Zukunft in unsere Hand zu nehmen. Denn der Neoliberalismus bedroht die Existenz der Menschen überall in Europa und damit ist auch die Demokratie in Gefahr, insbesondere durch das Erstarken der extremen Rechten.
Diejenigen, die behaupten, dass die verabreichte »Medizin« zum Kurieren der Krise geführt hat, sind Heuchler. Denn der europäische Traum hat sich für Millionen von Menschen in einen Albtraum verwandelt. Umfrageergebnisse des Eurobarometers zeigen, dass wir es mit einer erheblichen Vertrauenskrise in der EU zu tun haben und dass die Popularität der ultrarechten Parteien wächst.
Wir waren es, die europäische Linke, die noch vor der Etablierung der Eurozone zu Recht vor den Schwächen, Mängeln und destabilisierenden Ungleichgewichten dieses Projektes gewarnt haben. Aber die Eurozone existiert nun einmal. Wir haben eine Wirtschaftsunion und eine gemeinsame Währung, und die unmittelbaren Alternativen sind keinen Deut besser. Ein Ausscheiden aus der Eurozone würde keinem Krisenstaat etwas nutzen. Im Gegenteil. Damit würden nur neue Probleme entstehen wie eine instabile Währung, ein möglicher Sturm auf die Banken, Inflation, Kapitalflucht und massenhafte Abwanderung. Schon deshalb sollte etwa Griechenland nicht freiwillig die Eurozone verlassen. Das Ausscheiden Griechenlands oder eines der anderen Krisenländer wäre eine Katastrophe für ganz Europa. Denn sobald ein Land aus der Währungsunion austritt, werden die Märkte und die Spekulanten sofort darauf reagieren und fragen, wer der Nächste ist. Dies ist ein Prozess, der - einmal begonnen - nicht mehr zu stoppen ist.
Unser Interesse als EuropäerInnen ist ein anderes: Wir wollen die Eurozone verändern. Und hier stellen sich drei Aufgaben: Erstens müssen wir in Bezug auf Europa neue Ideen entwickeln, zweitens müssen wir dementsprechend eine veränderte Krisenpolitik betreiben und drittens müssen wir zwangsläufig die Institutionen, ja die ganze Grundlage der EU verändern. Diesen politischen Kampf müssen wir an zwei Fronten führen: zum einen zu Hause, zum anderen in Brüssel, Frankfurt und Berlin.
Denn das europäische Establishment hat die Schuldenkrise zum willkommenen Anlass genommen, die wirtschaftliche und politische Nachkriegsordnung Europas in seinem Sinne umzugestalten. Aus diesem Grund lehnen sie auch unseren Vorschlag ab, eine europäische Schuldenkonferenz einzuberufen, die sich an der Londoner Konferenz zur Regelung der Auslandsschulden von 1953 orientieren soll und auf der eine endgültige und tragfähige kollektive Lösung für das Problem erarbeitet werden könnte.
In Europa kämpfen...
Denken wir uns für einen Moment zurück in die Vergangenheit: Es ist der 27. Februar 1953. Die Bundesrepublik Deutschland ächzt unter ihrer Schuldenlast und droht die übrigen europäischen Länder in einen Krisenstrudel mit hineinzuziehen. Die Gläubigerstaaten, darunter Griechenland, machen sich ernsthafte Sorgen um ihre eigene Zukunft. Erst in dieser Situation begreifen sie, was abgesehen von den Neoliberalen längst allen klar war: Die Politik der »internen Abwertung« - gemeint ist eine Senkung der Lohnkosten - sorgt nicht dafür, dass die Schulden abbezahlt werden können. Ganz im Gegenteil.
Auf einem Sondergipfel in London beschließen 21 Staaten, ihre Forderungen an die tatsächliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Schuldnerländer anzupassen. Sie streichen 60 Prozent der deutschen Schulden, gewähren dem Land ein fünfjähriges Zahlungsmoratorium (von 1953 bis 1958) und verlängern die Rückzahlungsfrist um 30 Jahre. Überdies führen sie eine Art Nachhaltigkeitsklausel ein: Demnach muss Deutschland nicht mehr als ein Zwanzigstel seiner Exporteinnahmen für den Schuldendienst aufwenden. Diese Beschlüsse waren also das genaue Gegenteil des Versailler Vertrags von 1919 und bildeten die Grundlage für die erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg.
Nichts anderes fordert heute die »Koalition der Radikalen Linken« (SYRIZA). Wir sollten uns also daran machen, all die vielen Mini-Versailler-Verträge, die Bundeskanzlerin Merkel und ihr Finanzminister Schäuble den europäischen Schuldnerstaaten aufgeherrscht haben, wieder rückgängig zu machen. Lassen wir uns also von jenem großen Tag in der jüngeren Geschichte Europas inspirieren, an dem seine Führung so viel außergewöhnliche Weitsicht unter Beweis gestellt hat. Die verschiedenen Rettungsprogramme für die südeuropäischen Länder sind gescheitert. Sie haben ein Fass ohne Boden hinterlassen - die Zeche dafür müssen, wie meistens, die einfachen SteuerzahlerInnen zahlen.
Nun bestehen die politischen Eliten in Europa - die sich freiwillig in die Geiselhaft von Frau Merkel begeben haben - aber darauf, diese Maßnahmen, die die Probleme in den südlichen Ländern nur verschlimmert haben, auf den gesamten Euroraum auszudehnen. Wir dagegen meinen, dass Europa einen »New Deal« benötigt, um das Problem der Arbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen und um ausreichend Mittel für die Finanzierung der Zukunft unserer Länder zu generieren. Europa benötigt mehr Umverteilung und Solidarität, wenn es überleben will.
Dies sind die Grundpfeiler des neuen Europas, für das wir uns engagieren und kämpfen. Es soll an die Stelle des heutigen Europas treten, das unter den Armen nur Angst und Schrecken verbreitet, während es das Vermögen der Reichen anwachsen lässt. In Griechenland hat das Memorandum eine für die Nachkriegszeit beispiellose humanitäre Krise nach sich gezogen. Sie stellt eine Schande für die europäische Zivilisation dar. Zwei Millionen GriechenInnen sind nicht mehr in der Lage, Grundbedürfnisse zu befriedigen, es fehlt an Geld für ordentliche Mahlzeiten und zum Heizen. Vor kurzem ist in Thessaloniki ein Mädchen an einer Rauchvergiftung gestorben, weil ihre Familie die Stromrechnung nicht bezahlen konnte und versucht hatte, die Wohnung mit Hilfe eines selbst installierten Holzofens zu beheizen. In Athen und anderen größeren Städten gehört es inzwischen zum Alltag, dass gut gekleidete Frauen und Männern in Mülltonnen nach Essen wühlen. Eine Währungsunion, die zu einer Spaltung ihrer Mitgliedsstaaten und deren Gesellschaften führt, die für wachsende Arbeitslosigkeit verantwortlich ist und für ein Mehr an Armut und sozialer Polarisierung steht, muss entweder umgestaltet werden oder wird zusammenbrechen. Eine Umgestaltung bedeutet einen grundsätzlichen Wandel.
...und zu Hause
Vergessen wir jedoch nicht die anderen Ursachen der griechischen Finanzkrise. So hat sich in Griechenland nach wie vor nichts an der Verschwendung öffentlicher Gelder geändert. Nirgends in Europa kommt etwa der Bau eines Kilometers Straße teurer wie hier. Ein weiteres Beispiel: Die Privatisierung der Autobahnen dient angeblich der »Vorfinanzierung« neuer Strecken - deren Bau ist aber auf Eis gelegt, gefüllt werden die Taschen der »Investoren«.
Die wachsende Ungleichheit kann daher nicht einfach als Nebeneffekt der Krise abgetan werden. Das griechische Steuersystem ist ein Ausdruck von Klientelismus, der die Eliten des Landes zusammenschweißt. Dank zahlloser Ausnahmeklauseln ist das System löchrig wie ein Sieb, wobei die zahlreichen Ausnahmeregelungen und Vergünstigungen speziell auf die Oligarchen zugeschnitten sind.
Dieses Arrangement beruht seit dem Ende der Diktatur auf einem informellen Pakt zwischen Unternehmern und der doppelköpfigen Hydra des Zweiparteiensystem, bestehend aus Nea Dimokratia und Pasok. Das ist einer der Gründe, warum der griechische Staat bis heute nicht die so dringend benötigten Steuern von den Wohlhabenden eintreibt, sondern vorzugsweise die Löhne und Renten kürzt.
Aber das politische Establishment - das übrigens die letzten Wahlen nur überlebt hat, weil es erfolgreich die Angst der Menschen vor einem Ausscheiden aus der Eurozone schüren konnte - verfügt noch über ein zweites Lebenselixier: die Korruption. Die geheimen Absprachen zwischen den politischen und wirtschaftlichen Eliten aufzubrechen, gehörte daher zu den Prioritäten einer von SYRIZA angeführten popularen Regierung. Wir fordern ein Schuldenmoratorium also auch, um in Griechenland einen grundlegenden Wandel herbeizuführen.
Der Wandel Europas ist übrigens weit mehr als eine längst fällige Forderung, es handelt sich vielmehr um eine existenzielle Frage. In Griechenland hat der Prozess des Wandels bereits begonnen. SYRIZA ist nur noch einen Schritt von der Machtübernahme entfernt. Die gegenwärtige griechische Regierung versucht der EU dadurch zu imponieren, dass sie die Rolle des »Musterzöglings« spielt. Aber auch das hat ihr nichts gebracht. Nehmen wir als Beispiel die Zusage, die griechische Schuldenlast zu mindern. Die Debatte darum wurde ein ganzes Jahr lang ausgesetzt, weil man die Bundestagswahlen in Deutschland abwarten wollte. Jetzt erklärt man uns, wir müssten uns noch bis zu den Europawahlen im Mai 2014 gedulden. Die Herrschenden in Europa werden uns aber erst dann Gehör schenken, wenn wir einen politischen Wandel in Griechenland herbeigeführt haben und sich die Unzufriedenheit mit der Austeritätspolitik in den bevorstehenden europäischen Wahlen in entsprechenden Stimmenzuwächsen für linke Parteien niederschlägt.
Hin zu einem anderen Europa
Die anstehende Europawahl bietet eine Gelegenheit, einen wirklichen Dialog mit den Menschen in Europa zu beginnen - vor allem mit denjenigen, die den Eindruck haben, dass sich niemand für ihr Schicksal interessiert. Wir zählen dabei auf jede Einzelne und jeden Einzelnen von euch. Wir setzen auf die Solidarität, um bei den ersten entscheidenden Schritten unserer Regierung nicht allein dazustehen. Denn unter einer von SYRIZA geführten Regierung wird es in Griechenland eine Abkehr von all den Kürzungspolitiken geben. Wir werden einen tragfähigen Plan zur Förderung der griechischen Wirtschaft vorlegen, aber - was noch von größerer Bedeutung ist - einen realistischen Plan für einen Umbau hin zu einem anderen Europa. Was wir in Europa brauchen, ist eine möglichst breite Front gegen den vorherrschenden Kurs, eine Solidaritätsbewegung für die Rechte der Lohnabhängigen sowohl im Norden als auch im Süden. Was wir brauchen, wenn die europäische Linke an Stärke gewinnen und einen maßgeblichen Unterschied machen will im Alltag der einfachen Leute, sind möglichst umfassende soziale und politische Bündnisse. Die Europawahl im kommenden Mai bietet eine historische Chance, die Voraussetzungen für diesen Wandel mit zu schaffen. Wenn versucht wird, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, ist es an der Linken, Europa in eine bessere Zukunft zu führen.
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