»Graffiti ist fürs Leben«

Ein Graffiti-Archiv führt durch Berlin und hinein in den Untergrund der Streetart-Szene

  • Marlene Göring
  • Lesedauer: 4 Min.
Verkannt und verfolgt: Graffiti gehört zu Berlin wie der Fernsehturm. Aber es ist das gefährlichste Hobby auf den Straßen der Stadt.

Sie heißen Zeker81, Wesp oder Mr. X. Berliner begegnen ihnen täglich auf dem Weg durch die Stadt. Aber nur die wenigsten kennen sie oder beachten die Spuren, die sie auf Wänden und in Bahnhöfen hinterlassen. Und wenn doch, dann selten mit Wohlwollen.

Alle drei gehören zu den umtriebigsten 150 bis 200 Graffiti-Künstlern in Berlin. Das ist nur der harte Kern. Insgesamt soll es mehrere Tausend Sprüher geben, die Polizei spricht von bis zu 10 000. Meist sind es Männer zwischen 14 und 30, die auf Abstellgleise klettern oder sich auf Fassaden verewigen. Entgegen dem Bild vom abgeranzten Sprayer kommen sie oft aus der oberen Mittelschicht. Kaum ein Flecken in Berlin bleibt von ihnen unbesprüht. Zum Ärger der Politik: »Der Senat fährt seit Jahren einen Null-Toleranz-Kurs«, erklärt Martin Gegenheimer. Der Diplom-Politologe arbeitet beim Graffiti-Archiv des Archivs der Jugenkulturen. Regelmäßig führt er Touren durch Kreuzberg und erzählt dabei aus der Szene.

Mit 25 Personen bleibt eine eigens eingerichtete Ermittlungsgruppe der Polizei den Sprühern auf den Fersen - manchmal auch per Helikopter mit Wärmebildkamera, der Flüchtige durch die Nacht jagt. Wer erwischt wird, dem drohen Geldstrafen und bis zu zwei Jahre Freiheitsentzug. Usus sind auch U-Haft und eine Hausdurchsuchung, bei der alle digitalen Speichermedien beschlagnahmt werden. »Dann kann man sich gleich einen neuen Rechner kaufen«, meint Gegenheimer. Bis zu drei Jahre dauert es, bis die Geräte zurückgegeben werden. Außerdem werden Handys beschlagnahmt, um Bewegungsprofile zu erstellen. Bekannte Sprayer werden regelmäßig überwacht. »Da kann es sein, dass ein Beamter an der Tür klingelt und nur mal plaudern will«, erzählt Gegenheimer. »Um zu zeigen: Wir haben dich nicht vergessen.«

Das war nicht immer so. Vor 1989 konzentrierte sich die Graffiti-Szene auf die Westseite der Mauer. »Niemanden hat interessiert, wer dort sprüht«, erinnert sich Gegenheimer. »Die CDU fand das sogar super.« Die bezeichnete Graffiti damals als Volkskunst und politischen Widerstand gegen die DDR.

Seitdem hat sich viel geändert. Legale Flächen werden geschlossen, freie Mauern abgerissen, beklagt Tourführer Gegenheimer. Auch die BVG hat aufgerüstet. »Ein Bahnhof kann noch so schäbig aussehen - fast alle sind in Anti-Graffiti-Farbe eingehüllt.« Auf ihr lassen sich die Tintenbilder leicht entfernen, oder sie haften erst gar nicht. »Anti-Graffiti« sind auch die Sitzbezüge in den U-Bahnen. Die Fensterfolien sind seit einiger Zeit mit vielen kleinen Brandenburger Toren bedeckt. Denn auf ihren schmucklosen Vorgängern waren eingeritzte Bombs, Namen und Crews der Sprüher, sogar besser zu sehen als auf blankem Glas. Wenn doch einmal ein ganzer Waggon besprüht wird, muss der spätestens zwölf Stunden später aus dem Verkehr gezogen sein - sonst droht Berlin mit Mittelkürzungen.

Bewegungsmelder, Nachtsichtkameras, mobile Einsatzteams: Der öffentliche Nahverkehr betreibt einen riesigen Aufwand gegen Graffiti. Dazu gehört auch eine PR, die die Künstler als Verbrecher stilisiert. Dabei sinkt der verursachte Schaden stetig, zwischen 2008 und 2012 um ganze 42 Prozent auf fünf Millionen Euro pro Jahr. »Graffiti heißt für die öffentlichen Stellen nur Werteverfall und Kontrollverlust«, sagt Gegenheimer. Dass Straßenkunst zur Hauptstadt gehört wie der Fernsehturm und viele Touristen gerade wegen ihr hierher kommen - das gehe in der Wahrnehmung unter.

Aber nicht Strafen sind die größte Gefahr. »Es gibt viele, die einfach ruiniert sind«, beschreibt Gegenheimer. So wie Stefan alias RUZD79. Die Szenegröße hatte irgendwann eine Viertelmillion Euro an Schadensersatzforderungen angehäuft. 2002 nahm er sich das Leben. »Jedes Jahr sterben zwei bis drei Leute aus der Szene«, sagt Gegenheimer, der früher selbst dazugehörte. Am häufigsten passieren Unfälle mit Zügen. Deshalb klärt das Graffiti-Archiv auch in Schulen über die Gefahren beim Sprühen auf. Zum Beispiel darüber, dass eine Oberleitung bei hoher Feuchte ihre tödliche Spannung bis zu zwei Meter durch die Luft leitet.

»Wer wirklich Sprühen will, der macht es auch.« Auch wenn es noch so gefährlich ist. Das sei der wesentliche Unterschied zur Streetart, mit deren Korkmännchen und Bügelperlenbildern sich die Szene seit den 2000ern die Straßen teilt: »Streetart-Künstler machen das oft für ihr Portfolio«, meint Gegenheimer. »Aber Graffiti ist for life« - fürs Leben.

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