»Wir waren naiv, geben aber nicht auf«
Jubel über drei Jahre Freiheit in Libyen, doch zahlreiche Krisenherde halten Regierung und Bevölkerung in Atem
Trotz aller Jahrestagsfeiern: Die Euphorie über den Sturz Muammar al-Gaddafis ist verflogen. Zahlreiche Krisenherde im Land halten die Regierung von Premier Ali Seidan und die Bevölkerung in Atem.
Die Libyer haben das Vertrauen in den im Sommer 2012 gewählten Nationalkongress - das Übergangsparlament - und die Parteien völlig verloren. In Städten wie Zauwia und Al Baida schlossen Bürgerkomitees letztes Jahr sämtliche Parteibüros. »Das sind Lobbyisten in eigener Sache«, klagte der Student Nedal Bugashata bei einer Demonstration auf dem Algerien-Platz in Tripolis. Da hatte das Übergangsparlament sein Mandat, das eigentlich am 7. Februar enden sollte, gerade eigenmächtig verlängert.
Wegen der sich verschlechternden Sicherheitslage stehen fast alle Baukräne still. Der Ölexport - Haupteinnahmequelle des zweitreichsten Landes in Afrika - ist durch zahlreiche Blockaden geschrumpft. »In drei Jahren wurde nur Geld verteilt. In die Ausbildung der Jugend und den Aufbau von Armee und Polizei wurde kaum investiert«, beschwerte sich Nedals Freund Mohamed.
Regierungschef Seidan hatte den in den Ölhäfen ausharrenden Föderalisten mehrmals mit einem Einsatz der Armee gedroht. Da jedoch zahlreiche vom Staat bezahlte Milizen den Aufbau der Armee hintertreiben, reagierte Anführer Ibrahim Jatran betont gelassen. »Seidan konnte nicht einmal seine Brille retten, wie soll er da gegen Korruption und Milizen vorgehen«, sagt Jatran, dessen Truppe die Regierung eigentlich zum Schutz der Ölanlagen eingestellt hatte. Mit der Bemerkung spielte er auf die kurzfristige Entführung des Premiers durch eine Miliz in Tripolis an. Nachdem Bürger ihn befreit hatten, trat Seidan eingeschüchtert und ohne Brille vor die Presse.
Viele Gruppen haben es den für eine Dezentralisierung eintretenden Ölwächtern aus dem Osten gleichgetan und blockieren für ihre Forderungen Ölanlagen oder Straßen. Der Hauptstadt drehten Angehörige des ehemaligen Geheimdienstchefs Abdullah Senussi über Tage das Wasser ab, nachdem dessen Tochter entführt worden war.
Die Mehrheit der Bürger ist ins zivile Leben zurückgekehrt und erträgt Stromausfälle und Schießereien geduldig. Das Hauptthema in Cafés und Moscheen ist die grassierende Unsicherheit. »Wir wollen eine Armee und eine Polizei«, ist der Tenor fast aller Proteste.
Dass die Armee kaum noch Einfluss hat, demonstrierte am vorigen Freitag unfreiwillig der Kommandeur der Landstreitkräfte, General Khalifa Hafter. Über Youtube verkündete er die Auflösung des Übergangsparlaments und forderte eine Notstandsregierung. Doch nichts passierte. »Der Coup hat nur im Wohnzimmer des Generals stattgefunden«, scherzten Blogger schon Stunden später.
Tatsächlich hätte die Armee Grund genug, auf die Barrikaden zu gehen. Täglich werden Soldaten in Bengasi und Derna Opfer von Anschlägen. Aktivisten in der Cyrenaica vermuten religiöse Extremisten als Urheber der professionell ausgeführten Attentate. Sie treffen vor allem die sogenannten Saiqa-Spezialeinheiten, mit denen Gaddafi die islamistischen Untergrundkämpfer in Schach hielt. Einzig diese religiös-extremistischen Gruppen scheinen in dem Chaos kühl berechnend vorzugehen. Ihre Anführer saßen unter Gaddafi meist im berüchtigten Abu-Salim-Gefängnis oder sie kämpften in Afghanistan. »Kalifat« steht am Ortseingang von Derna, das als erste Stadt vollständig unter der Kontrolle der Ansar al-Scharia und verbündeter Milizen steht. Frauen ist das Autofahren mittlerweile untersagt. Auf Flugblättern erklärt Ansar al-Scharia die Regierung und den Nationalkongress im 1000 Kilometer entfernten Tripolis zu Feinden ihrer religiösen Revolution. Derweil wirft das liberale Lager um Mahmud Dschibril einigen Kongressabgeordneten vor, mit den Extremisten zusammenzuarbeiten, »Al Qaida ist jetzt erstmals in einem Parlament vertreten«, sagte ein Abgeordneter.
Immerhin haben die Bürger in den vergangenen drei Jahren das demokratische Handwerk gelernt und gehen für ihre Forderungen auf die Straße. Nach landesweiten Demonstrationen gegen die eigenmächtige Verlängerung des Parlamentsmandats beschlossen die Abgeordneten die Vorbereitung von Neuwahlen im Frühsommer. Zuvor soll noch in dieser Woche ein 60-köpfiger Ausschuss zur Erarbeitung einer Verfassung gewählt werden.
Letztlich sind es jedoch die außerhalb von Tripolis einflussreichen Stämme, die eine weitere Eskalation der Lage verhindern. Ihre Ältesten sind als Vermittler im Dauereinsatz. Milizionäre aus Misrata schlichten zur Zeit in Sebha zwischen den Stämmen der Awlad Sliman, Gaddadfa und Tobu. Fast 100 Menschen starben in den letzten Wochen bei den Kämpfen.
Nedal hielt sein Protestplakat gegen den Nationalkongress auch nach zwei Stunden hoch. »Wir waren naiv vor drei Jahren. Aber wir dürfen deswegen jetzt nicht aufgeben.«
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