Der schlimme Verdacht: Es ist ein Mensch

Sebastian Edathy und die öffentliche Moral

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: ca. 2.5 Min.

Hätte Willy Brandt heutzutage überhaupt noch eine Chance, Bundeskanzler zu werden? Wohl kaum. Brandt war psychisch labil, durchlebte depressive Phasen, war dem Alkohol zugeneigt und hatte Frauengeschichten, von denen die Öffentlichkeit nichts wissen durfte, denn Seitensprünge galten in jener Zeit als moralisch nicht akzeptabel. In der kleinen Bonner Republik konnte der menschliche Makel innerhalb der Mauern der politischen Macht bleiben. Es gab politische Freunde, die schotteten Brandt ab, wenn es zu brenzlig wurde - und es gab Journalisten, von denen der ein oder andere zwar etwas ahnte, vielleicht auch wusste, aber nichts davon in der Öffentlichkeit kolportierte. Es gab den Privatmenschen Willy Brandt und den Politiker Willy Brandt - beides waren unterschiedliche Personen. Der Politiker Brandt hatte sich unbestritten Verdienste erworben, davon musste - das war journalistischer Konsens - die moralische Fehlbarkeit getrennt werden.

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