Frau Haller will sterben

Als Pfleger bei einer Seniorin, die nichts mehr vom Leben erwartet

  • Houssam Hamade
  • Lesedauer: 4 Min.

Frau Haller ist jetzt 84 Jahre alt. Sie ist eine der Frauen, die ich betreut habe, als ich letztes Jahr für einen ambulanten Pflegedienst in Berlin-Kreuzberg gearbeitet habe. Mir graulte es immer vor den Diensten bei Frau Haller.

Beim Eintreten in die mit Möbeln aus den Fünfzigern vollgestellte Wohnung roch es muffig. Wie die säuselnde Stimme eines Geistes hörte man sie dann: »Ist da jemaand? Gottseidank ist jemand daa! Ich hab’ sooo gewartet. Die ganze Zeit habe ich auf die Tür gehoorcht.« Während die Geisterstimme weiter säuselte, musste man einen längeren, blumentapezierten Flur überqueren, um in Frau Hallers Schlafzimmer zu kommen. Es roch nach Reinigungsmitteln und Urin. Da lag sie dann in Embryohaltung, mitten im Bett.

Die Arme und Beine sind an- und festgezogen, so fest wie Baumwurzeln. Die Augen kann sie nicht öffnen. Darum, und weil der Mensch Körperkontakt braucht, ist es gut, wenn man ihr zur Begrüßung die Hand gibt. Auch wenn dieser Körperkontakt von einer fast fremden Person kommt, die dafür bezahlt wird und vielleicht schnell wieder nach Hause möchte.

Endlich ist man da. Sie habe schon gedacht, man habe sie vergessen, klagte Frau Haller - während ich unter Termindruck begann, mit dem, was auf dem Tourenplan mit »P07b Darm und Blasenentl., Intimpflege« bezeichnet wird. Das Problem ist, dass sie sich kaum noch bewegen kann, und man an ihr herumzerren muss, um ihr die Windel abzuziehen und den Kot abzurubbeln. Wie eine gruselige und bedrückende Schallplatte klagte sie währenddessen: »Aua, das tut weh«, jedes Mal wenn man ihren verknoteten Körper angefasst hat. Man versucht dabei, so sanft wie möglich zu sein. Nur ist ihr Körper völlig verkrampft vom im Bett Liegen, Stunde um Stunde um Stunde um Stunde.

Während ich sie (Vorgang »P05«) von der linken auf die rechte Seite lagerte, damit sie sich kein Loch in die Haut liegt, überlegte ich, worüber ich mich mit ihr unterhalten könnte. Die meisten Themen fallen weg, weil man, wenn man den ganzen Tag blind und bewegungsunfähig im Bett liegt, nicht viel Bezug zu Angela Merkel oder Thomas Hitzlsperger oder der Frage nach der Bebauung des Tempelhofer Feldes hat. Einmal frage ich sie, wer die Frau mit dem entschlossenen Blick und der Mütze mit der Feder drin ist, auf dem Bild neben ihrem Bett. Das wusste sie aber nicht mehr, weil sie schon seit acht Jahren nichts mehr sieht. Und immer klagt sie.

»Na, Frau Haller, wie haben sie geschlafen?« - »Gar nich. Es brennt wie Feuer!« - »Oh, Frau Haller...« - »Es juckt...«. - Ich weiß nicht, was antworten. - »Ich will sterben.«

Ich hasste die Gänge zu Frau Haller. Ich spürte nicht Mitgefühl, sondern Mitleid. Ich litt mit ihr, wenn ich bei ihr war. Während ich begann, ihr Schokopudding in den Mund zu schaufeln, den mochte sie, stellte ich mir vor, wie es wäre, sie zu sein. Ich leide wie ein Hund, wenn ich einmal krank bin, und nicht aus dem Bett kann. Mein Rücken fühlt sich dann an, als würde er gleich brechen. Ich stelle mir vor, wie es ist, wenn die Hände verkrampft, die Beine verzogen, die Sehnen verkürzt sind. Wenn ich in einem endlosen, dunklen Film gefangen wäre, geprägt von Schmerzen und etwas, das weit über Langeweile hinausgeht, das wohl eher so etwas wie ein gähnender Abgrund aus Leid ist.

Fast ist die zweite Packung Schokopudding unter pfeifenden Atemstößen aufgeputzt, da denke ich, dass es vielleicht gar nicht so schlimm ist. Der Mensch gewöhnt sich an alles, sagt man doch immer. Da greift Frau Haller blind in die Luft, scheint nach meiner Hand zu tasten. Ich gebe sie ihr. - »Gott sei dank, ich bin nicht allein... .«

Nein, Frau Haller hat sich nicht daran gewöhnt. Ich nehme viel eher an, Frau Haller befindet sich in einer Art Fegefeuer.

Ich lüge nicht. Genau so habe ich es erlebt, genau das hat Frau Haller gesagt (der Name ist allerdings geändert). Alle fünfzehn Minuten wiederholte sie, dass sie sterben will.

Es ist klar, dass die Frage nach der Sterbehilfe problematisch ist - vor allem, was deren Umsetzung angeht. Dennoch, es geht um die Grundfrage: Muss man jedes Leid bis zum bitteren Ende leiden? Sollte ein Mensch das nicht selbst entscheiden dürfen? Für manche Menschen ist das Leben die Hölle, und das Ende kann nur der Tod sein. Ist angesichts dessen die Ansicht vieler Christen, dass nur Gott das Leben nehmen darf, vereinbar mit dem Gebot der Nächstenliebe?

Als ich Frau Haller beim Gehen einen schönen Tag wünschte, kam ich mir vor, als würde ich sie verspotten. Das verging aber schnell, als ich in das Sonnenlicht trat, mich aufs Fahrrad setzte, meine Körperkraft, die Luft, die Stadt beim Fahren fühlte. Dann vergaß ich sie, bis zum nächsten Besuch.

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