Im Copyshop der Vorurteile
Das Dresdner Hygiene-Museum zeigt eine Ausstellung über »Das neue Deutschland« von Einwanderung und Vielfalt
An einer Bretterwand ist Schluss: Der Besucher steht in der Sackgasse. Ein Foto an den Planken zeigt Männer, denen es ebenso geht. Sie spähen durch Spalten eines Tores in eine unschöne Zukunft. Ihre Reise, ihre Flucht, ist zu Ende. »Abschiebegewahrsam Berlin-Köpenick« heißt das 2005 entstandene Foto von Maurice Weiss. Die Männer hatten Deutschland, das aus ihrer Sicht gelobte Land, mit vielen Mühen erreicht - und müssen es wieder verlassen. Es droht die Rückkehr in eine Heimat, in der Armut, Hunger, Verfolgung warten.
Die Flüchtlinge haben keine Wahl, der Besucher der am Freitag eröffneten Sonderausstellung im Deutschen Hygiene-Museum Dresden hat sie. Zehn Schritte zurück und an einer Weggabelung links statt rechts abgebogen: Schon steht er in der Stadt der Träume. Auch den Einbürgerungstest auf einem Bildschirm kann er absolvieren, aber er muss es nicht - anders als die Mehrzahl jener Zuwanderer, die aus aller Welt nach Deutschland kommen und hier bleiben wollen. Um sie geht es in der Ausstellung mit dem Titel »Das neue Deutschland« - und um ein Land, das ohne sie nicht mehr zu denken ist. Die Schau handelt »von Migration und Vielfalt«, wie der Untertitel klarstellt - und von den Problemen, die ein Großteil der Alteingesessenen noch immer damit hat.
Denn natürlich beschreibt die Formel von Deutschland als einem »Einwanderungsland«, die 1998 von Bundeskanzler Gerhard Schröder zum ersten Mal öffentlich gebraucht wurde, zwar die nüchterne Realität. Von 80,2 Millionen Deutschen haben 15 Millionen einen »Migrationshintergrund«, das heißt, sie oder ihre Vorfahren sind nach 1949 in das Land gekommen. Die Mehrzahl von ihnen arbeitet und zahlt Steuern oder schafft als Unternehmer Arbeitsplätze; viele musizieren in deutschen Orchestern, stürmen in Fußballmannschaften und forschen an Instituten. Dennoch bleiben Skepsis und Vorurteile bei Einheimischen. Sie gehen gegen Flüchtlingsheime und geplante Moscheebauten auf die Straße - oder sprechen dunkelhaarige Kunden ihrer Behörde unvermittelt mit gebrochenem Deutsch und distanzlosem »Du« an.
Dabei ist, wie die Ausstellung erzählt, Migration kein neues Phänomen - im Gegenteil: Viele Alteingesessene haben selbst Migrationshintergrund, wenn auch nicht gemäß der aktuellen amtlichen Definition. Ein Abschnitt der Schau illustriert das für Sachsen. Zu sehen ist eine Geige: Die Gründer der ersten Innung im vogtländischen Musikwinkel waren exilierte böhmische Protestanten. Zu sehen ist ein Gewehr: Richard Hartmann, der in Chemnitz eine Lokomotiv- und Waffenfabrik gründete, kam aus dem Elsass. Zu sehen ist ein Bergaltar: Viele Silberschürfer, die im 15. Jahrhundert dem »Berggeschrey« im Erzgebirge folgten, waren Zugereiste. Heute veranstalten manche ihrer Nachkommen »Lichtelläufe«, um in der Bergstadt Schneeberg gegen eine angebliche »Asylantenschwemme« zu protestieren. Selbst der zweite Teil des Wortes ist grotesk übertrieben. 2013, ist in der Ausstellung zu lesen, wurden in Deutschland 80 978 Anträge auf Asyl gestellt. Positiv beschieden wurden 20 138.
Die Ausstellung vermittelt eine erstaunliche Vielzahl solcher Zahlen und Zusammenhänge - auf erfreulich lockere, fast spielerische Weise. Das vom Architektenbüro »raumlabor« aus Berlin entworfene Konzept findet erheiternde optische Lösungen selbst für komplexe Zusammenhänge. Statistiken sind aus Bauklötzchen und Mensch-ärgere-dich-nicht-Figuren gebastelt, Zuwandererströme mit Matchbox-Autos nachgestellt. In einer Vitrine spannen sich über einen Holzrahmen unzählige rote Fäden, die gekreuzt, verdreht und versponnen sind. Was wie ein in Unordnung geratener Handwebrahmen wirkt, ist eine Art Verlaufsdiagramm, das die Wege und Irrwege der europäischen Asylbürokratie illustriert: von Zurückweisung an der gut geschützten Außengrenze über Anhörung, Umverteilung, Unterbringung in einer »Zentralen Aufnahmestelle« bis zu Abtauchen und Ausweisung.
Alle diese Diagramme und Bilder, dazu etliche Audio- und Videoinstallationen stehen in, auf und zwischen Kisten. Die sind das visuelle Leitmotiv der Schau - weil sie ein Inbegriff für Unterwegssein sind: Hölzerne Behältnisse, in denen neben Waren und Gütern auch die Habseligkeiten von Reisenden und Umzüglern verstaut werden. Türme von Kisten formen im ersten Teil der Schau die Silhouette einer imaginären Stadt, wie sie zum einen Sehnsuchtsort vieler Migranten ist, zum anderen der Ort, in dem Zuwanderer und Einheimische meist zuerst aufeinandertreffen und wo sie miteinander leben (müssen). Später sind aus den Kisten und Brettern unterschiedliche Plätze innerhalb einer Stadt gezimmert: ein Archiv, in dem die Geschichte der Zuwanderung in Deutschland erzählt wird; eine Kirche, in der die Rolle der Religion als Ort von Heimat in der Fremde ebenso beleuchtet wird wie das daraus resultierende Nebeneinander der Religionen und ihrer Gotteshäuser in der Bundesrepublik. In hölzernen Buden und Marktständen wird - versinnbildlicht wiederum mit Spielzeug und bunten Verpackungen - auf ökonomische Faktoren von Zuwanderung eingegangen: auf die Erntehelfer, die teils für wenig Geld deutsche Erdbeeren und Gurken pflücken; auf die »Entwicklungshilfe«, die Migranten per Geldüberweisung in ihren Herkunftsländern leisten. Nach Indien etwa fließen auf diese Weise jährlich 67 Milliarden Dollar; aus Deutschland werden 15,3 Milliarden in aller Herren Länder überwiesen.
Neben Archiv und Kirche, Marktplatz und Schule gibt es auch ein Regal, betitelt als »Copyshop der Vorurteile«. Auf bedruckten Shirts und Kissen, Tellern und Bierkrügen sind Karikaturen und groteske, teils dumme Sprüche zusammengetragen, die andeuten, wie Ressentiments immer wieder vervielfältigt werden. Zwei alte Damen treffen sich: »Wo man hinguckt, überall Ausländer!«, wettert die eine. Jaja, entgegnet die andere: »Im Ausland soll es noch schlimmer sein.« Solche Shirts sollten den Besuchern mitgegeben werden - mit der Maßgabe, sie bis Ende August so oft wie möglich zu tragen. Dann wird in Sachsen der Landtag gewählt. Kernthema nicht nur der NPD sind wieder einmal sogenannte »Asylanten«.
»Das neue Deutschland. Von Migration und Vielfalt«. Bis 12. Oktober im Deutschen Hygiene-Museum Dresden, Lingnerplatz 1, www.dhmd.de
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