Großes Tor und kleine Tür

Mondsüchtig: Der Gedichtzyklus »Cyrano« von Durs Grünbein

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.

Azophi, Macrobius, Sasserides, Inghirami. Klangvoll fremde Namen, wie auch Endymion, der ewig schöne Liebhaber der Mondgöttin Selene. Namen von Mondkratern, Dutzende, sie stehen über den Gedichtanfängen - wie auch Namen von kühnen Träumern ins himmlisch Unbefestigte: Kepler, Verne, Ziolkowski, Fermi, Gagarin, Armstrong.

»Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond« heißt der neue Gedichtzyklus von Durs Grünbein. Der Dichter durchquert das große Ganze mit Blick für die geringen Dinge, immer begegnen in diesen Versen das Mächtige und das Marginale einander. Die Sprache schwingt, sie schlägt weite Assoziationsbögen. Sie spielt mit Klugheit, bekennt sich souverän und immer wieder überraschend gleichniserregt zu einer enzyklopädisch befestigten Lust am Denken, am Durchwandern der Geografien und Bildungsgüter. Gelassen und offen für eine Flut von Fragen nach Materie und Gedächtnis.

Der Dichter entwirft ein Panorama der Mond-Süchtigkeit durch alle Zeiten hindurch, er stimmt einen Gesang an auf eine berauschend romantische Verlorenheit, die in Traum- und Tateinheit mit wissenschaftlicher Intelligenz alle irdische Gebundenheit aufkündigt. So, als lösten sich sämtliche Enttäuschungen übers Leben spielerisch auf in den Fantasien von größtmöglicher Entfernung. Als gründe sich Rettung in jener höhenfliegerischen Vorstellung, die uns aus der Banalität und Gleichförmigkeit unserer nichtigen Verrichtungen heraushebt. Abenteuer, Reise, Expedition. Wir fahren hinaus und wollen davon lesen - weil wir nicht akzeptieren wollen, dass aller gegenwärtige Aufruhr unserer Sinne, unserer Gedanken, unserer Seinskraft letztlich eingebettet bleibt in eine ewige Gleichgültigkeit der Welt gegenüber allem, was wir waren, wollten, wirkten.

Das Reisen als sinnerschütternde »Pause im Sterben«, wie Durs Grünbein in einem Essay schrieb. Aber hat er nicht auch schon geschrieben, Reisen sei »ein Vorgeschmack auf die Hölle«? Denn: »Dem Körper ist Zeit gestohlen, den Augen Ruhe,/ das genau Wort verliert seinen Ort«. Sich abzustoßen, bleibt zweischneidig. Es ist eben nicht zu mindern, dies Spannungsfeld zwischen dem großen Tor, das wir frech-forsch aufstoßen, und der kleinen Tür, an die wir bittend klopfen. Der Mond als nächtlicher Intimfreund unserer Blicke - und zugleich doch der kältestmögliche Spiegel, in dem wir uns zurückgeworfen sehen ins Grund-Lose unserer Existenz.

Den vorliegenden Zyklus beendet Grünbein mit einem Aufsatz, »Lyrische Libration«; darin schildert er die Mondfantasien des Cyrano de Bergerac - mit besonderem Augenmerk auf die Euphorie, mit der dieser »Gedankenreisende« seine Rückkehr aus dem Weltraum schilderte. Ein laut freudiger Besessener der Heimkehr und somit für Grünbein ein Pionier der Relativität - jener wichtigsten Voraussetzung möglichen Glücks.

Immer wiederkehrendes Widerspruchspaar im Buch: das Wirkliche und das Mögliche. Da ist durchdringend von Aufbrüchen die Rede, von gefährlichen Finsternissen aller Wege, von der Kraft einer Natur, die am Ende unserer Kultivierungsmühen doch nichts weiter bleibt als sie selber. Wir in ihr: eine Verwitterungsgemeinschaft. Visionen vom glücklichen Beginnen kreuzen sich mit Versen rund um jene Gefangenschaft des Menschen in unausweichlichen Gesetzen seines Verschwindens - im Kreislauf einer größeren Ordnung der Dinge.

Immer schon war dem Poeten Grünbein die Heimat ein Transitraum für Ausfahrten in die Welt - die freilich hinter allen glänzenden Fassaden Pompeji ahnen lassen; im Atemzug, der den Ursprung singt, zittert immer eine Prophetie vom apokalyptische Ende mit.

Die Poesie Grünbeins ruft den Rationalismus an und verwandelt ihn zurück ins Geheimnis. Aufklärung als Anlass, um über die Unergründlichkeit der Existenz zu befinden. Der Aufklärungsgegenstand, einverleibt ins grundsätzlich Unerklärliche. Dichter gelten dem Dresdner als »verlorene Wissenschaftler, die ohne Fußnote arbeiten«. Und immer ist der Fortschritt etwas, das wettgemacht werden muss »im Trümmerregen«. Im »Schlepptau der Träume«: Schrott.

Der Dichter spricht im erwähnten Aufsatz von der Kraft der Lyrik, das Wort in Schwingungszustände zu versetzen, die das Sprachempfinden des Lesers elektrisieren, indem sie die Unterschiede zwischen Nähe und Ferne aufheben. Den Mond anschauen, als sei das Sehen dem Hören ähnlich, und was wir da hören, ist das Rauschen der Abgründe - die sich auch in den Höhen auftun, die wir fortwährend versuchen. Müssen wir sie denn versuchen? Mit dieser Frage bleibt der Dichter ein Mensch im Stande der Unentschiedenheit. Wie der wahre Leser.

Durs Grünbein: Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond. Gedichte. Suhrkamp Verlag. 120 S., Leinen, 20 €.

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