Unruhen wie im Sommer des Gezi-Parks
Tod eines 15-Jährigen ließ in über 30 türkischen Städten Proteste wieder aufflammen
An der U-Bahnstation Osmanbey zwischen Taksim und Sisli ist es ganz schlimm. Die Menschen versinken geradezu in Tränengasschwaden. Panik, Leute die zusammenbrechen. Man wundert sich, wie sie das überleben. Ganz unvermutet sieht Istanbul wieder aus wie im vergangenen Sommer während der Gezi-Park-Unruhen.
Der Grund ist der Tod des 15-jährigen Berkin Elvan. Im heißen Gezi-Sommer war er aus dem Haus gegangen, um ein frisches Weißbrot zu holen. Er könnte mit anderen Jugendlichen Richtung Taksim, zur Demonstration gegangen sein, räumt sein Vater Sami Elvan ein. Jedenfalls wurde der damals 14-Jährige von einer Tränengasgranate der Polizei am Kopf getroffen und fiel in ein langes Koma, das nach 269 Tagen im Tod endete.
Hunderttausend oder mehr Menschen folgten am Mittwoch seinem Sarg bei der Beerdigung in Istanbul. Es gab einige Provokationen, ein Wahlkampfbüro von Erdogans AK-Partei wurde verwüstet, einige Demonstranten wollten auch zum Taksim-Platz marschieren, was verboten war. Verboten, weil es halt verboten ist. Und schon wieder beginnt der Zirkel von Polizeigewalt und Demonstrantengewalt, der in europäischen Medien normalerweise etwas verkürzt als »gewalttätige Demonstration« erscheint.
Die Geschichte des Jungen geht vielen nahe. Zahlreiche Geschäftsleute in der Umgebung seines Viertels Okmeydani haben aus Protest ihre Läden geschlossen. Prominente Vertreter des türkischen Unternehmerverbands Tüsiad haben ihre Betroffenheit bekundet und zum Teil in ihren Supermärkten und Einkaufszentren die Musik abstellen lassen.
Erdogan hält indessen im fernen Mardin an der syrischen Grenze eine Rede. Auf die Ereignisse des Tages geht er ein wie immer: »Bekannte Kreise stellen neue Fallen, um die Ruhe der Türkei zu stören«, sagt der Premier. Da sind sie wieder, die finsteren Mächte, die für jeden Protest gegen seine Politik verantwortlich sind.
Das könnte man auf sich beruhen lassen, wäre es nicht das Bild, das in der Türkei Millionen von Menschen vermittelt wird. Dies nicht nur durch Erdogan selbst, sondern durch zahllose Medien, die türkische Unternehmer gekauft haben, die nicht im säkularen Tüsiad, sondern im islamischen Müsiad organisiert sind.
Für viele Unternehmer des Müsiad ist die Geschäftsidee einfach, aber Erfolg versprechend: Kaufe einen Fernsehkanal, der den Ministerpräsidenten lobt, und kassiere staatliche Aufträge oder Unterstützung. Wenn man in diese Fernsehkanäle schaut, sieht man eine ganz andere Türkei. Da ringen nicht Demonstranten an der U-Bahnstation Osmanbey nach Luft, sondern Randalierer zünden Wahlbüros der AK-Partei an. Nur bei genauerem Hinsehen bemerkt man, dass das Feuer eigentlich vor den Häusern ist und eher einer brennenden Barrikade als einer gefährlichen Brandstiftung zuzuordnen ist.
Insgeheim mag Erdogan froh über den neuen »Krawall« sein, lenkt er doch von all den Telefonmitschnitten ab, die die mit Erdogan neuerdings verfeindete Gülen-Sekte ins Internet stellt. Da weist Erdogan seinen Sohn Bilal an, erhebliche Geldsummen zu verstecken, herrscht Medienunternehmer wegen ihrer Überschriften oder der Erwähnung von Oppositionspolitikern an und äußert sich abfällig über seinen Außenminister. Die Echtheit mancher dieser Aufnahmen ist umstritten. Aber selbst Erdogan kann mittlerweile nicht mehr alles leugnen. Da mag etwas Ramba-Zamba im Lande besser zu ertragen sein. Mit seinem Charisma, seinem Geschick und den Medien der Müsiads hat es Erdogan bisher geschafft, allen Widrigkeiten zum Trotz noch immer viel Unterstützung bei den vielen kleinen konservativen Hatices und Mahmuds im Land zu erhalten.
Da mögen sich ein paar Säkularisten, ein paar Alewiten, wie die Familie von Berkin Elvan, und die Familien aller anderen Gezi-Toten aufregen, solange das die Hatices und Mahmuds nicht erreicht, kann Erdogan unbekümmert weiter regieren. Ob diese Rechnung aufgeht, werden die Kommunalwahlen am 30. März zeigen. Zumindest in Istanbul könnte es für Erdogans Partei knapp werden.
In der Nacht gibt es zwei neue Todesnachrichten. Im kleinen, aber aufsässigen mittelanatolischen Tunceli ist ein Polizist wohl am eigenen Tränengas gestorben. Nahe Okmeydani wurden ein 22-Jähriger erschossen und zwei Männer verletzt. Doch anders als es der Kreisvorsitzende der AK-Partei im Fernsehen behauptete, hatte die Schießerei wohl nichts mit der Demonstration zu tun.
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